„American Murder: Gabby Petito“ – eine Einordnung der Red Flags/toxischen Warnsignale

Als Gabby Petito 2021 viral ging, war es nicht wie erhofft mit einem eigenen Video. Es war ein Polizeivideo, in dem die von häuslicher Gewalt betroffene, völlig verängstigte junge Frau sich selbst die Schuld an der erlebten Gewalt gab. In einer Netflix-Doku über sie zeigen sich nun erschreckend viele weitere Red Flags/toxische Warnsignale.

Das Icon des Toxiversums, eine stilisierte Person mit einem großen Fragezeichen über sichEins solltest du wissen: An all dem, was ihr widerfahren ist, trug Gabby Petito absolut keine Schuld. Sie wurde von ihrem offensichtlich äußerst toxischen Verlobten ermordet, und das lag nicht an ihr. Sie war in keiner Sekunde für die Gewalt, die er ihr gegenüber angewandt hat, verantwortlich! Diese Verantwortung lag einzig und allein bei ihm. Und nein, sie war nicht selbst Täterin, wie die Polizei in dem Polizeivideo behauptete. Hätte Petito ahnen können, was passieren würde? Nein. Und sie hat sich dieses entsetzliche Schicksal auch nicht selbst ausgesucht!

Ich bin mir dessen bewusst, dass die dreiteilige Netflix-Dokumentation nur einen Ausschnitt der Beziehung zeigt. Und dass ein solcher Ausschnitt, wie der Dokumentarfilmer Mark Vicente in seinem Podcast erklärt, natürlich nur das wiedergibt, was die Macher:innen der Doku wiedergeben wollten. Ich bin mir auch dessen bewusst, dass wir mit dieser Doku und all den vorangegangenen Videoveröffentlichungen eine teils äußerst voyeuristische, demütigende Zurschaustellung der seelischen Qualen dieser jungen Frau sehen und uns als Zuschauende Teil des toxischen Systems dahinter machen.

Doch ich weiß auch, wie vorschnell, leichtfertig und ahnungslos Menschen und Behörden bis heute urteilen, wie falsch diese Urteile sein können, und welche enormen Schäden sie damit bei den Opfern toxischer Gewalt anrichten. Und da auch in der Dokumentation „American Murder: Gabby Petito“ keine Expert:innen zur Sprache kamen, die das toxische Verhalten des Verlobten gegenüber Petito hätten einordnen können, möchte ich an dieser Stelle die Red Flags/Warnsignale für eine toxische Beziehung herausstellen und erklären. In der Hoffnung, dass du dich anschließend besser vor diesen Formen der Gewalt schützen kannst.

Sollte dir auffallen, dass ich hier nur den Namen des Opfers nenne, nie den des Täters, dann solltest du wissen, dass ich das sehr bewusst so handhabe. Denn nicht die Namen der Täter:innen sollten in Erinnerung bleiben, sondern die der Opfer.

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Die Red Flags/Toxischen Warnsignale in der Beziehung von Gabby Petito

Was ich im Folgenden erkläre, bezieht sich auf das, was in der Netflix-Doku „American Murder: Gabby Petito“ über die Beziehung von Petito zu ihrem Verlobten gezeigt wird. Anhand dieses Gezeigten ziehe ich Schlüsse auf sehr typisches Verhalten toxischer Menschen und ihrer Opfer.

1. Die Wirbelwind-„Romanze“

Ein junger Mann begegnete einer jungen Frau, Gabby Petito, und verliebte sich aus dem Stand in sie. Was sagenhaft romantisch und märchenhaft klingt, ist in Wirklichkeit toxische Taktik. Viele toxische Menschen versuchen ihr Opfer so schnell wie möglich in ihre Fänge zu ziehen (d. h. unter ihre Kontrolle zu bekommen). Denn sie wissen, dass sie es nicht lange durchhalten werden, die scheinbar supernette, zugewandte Maske lange aufrechtzuerhalten.

Sie überschütten ihr angepeiltes primäres Opfer also mit positiven Dingen und sagen bereits nach äußerst kurzer Zeit magische Worte wie „ich liebe dich“ und „ich kann mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen“ Fragezeichen © Toxiversum. Dabei haben sie sich nicht auf den ersten Blick verliebt – sie haben nur ein Objekt entdeckt, das sie unbedingt besitzen wollen. Also setzen sie alles daran, es möglichst schnell zu bekommen.

2. Sie waren sehr schnell ein Paar, doch Petito erzählte davon nichts

Vielleicht werden wir nie erfahren, warum Gabby Petito ihrer Familie und ihren Freund:innen zunächst nichts von ihrem Freund erzählte. Doch so ist es sehr häufig in toxischen Beziehungen. Während die Opfer meist schon ein leises Gefühl dafür haben, dass etwas nicht in Ordnung ist, überreden oder nötigen toxische Menschen sie dazu, ihr „süßes Geheimnis“ noch ein bisschen länger vor anderen zu verbergen.

Denn toxische Menschen brauchen Zeit, um für ihre angepeilte Allmacht über das Opfer ungestört das Fundament legen zu können. Um es so fest an sich zu binden, dass es die Beziehung gegen jede noch so berechtigte Kritik verteidigen wird. Da brauchen sie natürlich keine beste Freundin, keine besorgten Eltern, die mahnen, dass das doch alles ein bisschen schnell gehe.

3. Petito zog mit ihrem Freund zusammen extrem weit weg

Sehr bald wollten die beiden zusammenziehen, aber nicht dort, wo Gabby Petito lebte, sondern 2.000 Kilometer entfernt bei den Eltern ihres Freundes. 2.000 Kilometer sind ungefähr so weit wie die Entfernung zwischen Flensburg in Norddeutschland und Salerno in Süditalien. Das klingt überstürzt und mächtig mutig, und wir glauben oft, so etwas scheinbar Verrücktes können wohl nur frisch Verliebte tun.

Doch in Wirklichkeit ist auch das Taktik. Denn toxische Menschen wollen ihre Opfer so schnell wie möglich von den Menschen isolieren, die ihnen schon in diesem frühen Stadium die Augen öffnen könnten. Nicht immer ist es eine solch extreme Entfernung, manchmal ist es nur ein anderes Viertel, eine andere Stadt, ein anderes Bundesland. In diesem Fall entzog dieser Mann Petito aber nicht nur ihr unterstützendes Umfeld – er zog sie in sein eigenes Umfeld hinein, seine Familie, die natürlich in erster Linie ihn unterstützte. Das ist Isolation in einer ihrer massivsten Formen.

4. Er wollte immer dabei sein

Eine Freundin von Gabby Petito erzählt in der Doku, dass die beiden jungen Frauen sich irgendwann treffen wollten. Doch dass Petitos Freund unbedingt dabei sein wollte. Und dass er dann nur im Hintergrund blieb, sie aber immer im Auge hatte. Zu Recht kam ihr das merkwürdig vor. Denn auch das ist eine typische toxische Taktik.

Auf diese Weise kann ein toxischer Mensch sein Opfer gut kontrollieren. Hier konnte sich der Freund nun sicher sein, dass Petito ihrer Freundin nichts Negatives über ihn oder von ihren eigenen möglichen Zweifeln erzählen würde. Passiert so etwas öfter, ziehen sich viele Freund:innen aus einer solchen Freundschaft zurück. Oder sie bestehen darauf, sich ohne diesen merkwürdigen Partner zu treffen. Doch der hat das Opfer längst eingenordet: Er will immer dabei sein, vorgeblich aus Liebe und Interesse an ihren Freundschaften. In Wirklichkeit aber will er sie nur unter Kontrolle haben und von ihrem stärkenden, unterstützenden Umfeld so weit wie möglich isolieren.

5. Er füttert seine beste Freundin nur mit positiven Botschaften

Petitos Freund beschrieb seine Beziehung gegenüber seiner besten Freundin wohl in schillernd romantischen Worten. Sie war überzeugt davon, dass er Petito über alles liebe. Und hat auch deshalb nie Warnsignale sehen können. Doch selbst wenn sie hätte eingreifen wollen – es hätte wahrscheinlich wenig genützt.

Denn der Einfluss „bester“ Freund:innen oder anderer Leute auf toxische Menschen ist in der Regel minimal. Eine dauerhafte Verhaltensänderung wird niemand bewirken können. Die muss der toxische Mensch selbst unbedingt wollen – und das tun diese Menschen meistens nicht.

Hier zeigt sich auch, wie unterschiedlich toxische Menschen die Leute in ihrem Umfeld behandeln: Nach außen stellen sie sich, ihr Handeln und ihre angeblichen Gefühle äußerst positiv dar. Auch das ist eine Isolationstaktik. Würde sich ein Opfer einer solchen Freundin mit allen Sorgen, Zweifeln und Schmerzen anvertrauen, würde die dem Opfer natürlich nicht glauben. Denn sie ist ja fest von den angeblichen, großen Gefühlen des toxischen Menschen überzeugt.

6. Gabby Petito traute sich nicht aus ihrem Zimmer

Als Gabby Petito mit ihrem Freund bei dessen Eltern einzog, erlebte sie bald, was typische Anzeichen für Narzissmus in der Familie gewesen sein können. Es scheint, als sei seine Mutter eifersüchtig darauf gewesen, dass ihr Sohn nun so viel Zeit mit seiner Freundin verbringe. Und SMS von Petito an ihren Freund legen den Verdacht nahe, dass seine Mutter außerdem kontrollierendes Verhalten an den Tag legte. Petito traute sich offenbar wegen dieses Verhaltens nicht mehr aus dem Zimmer, nicht einmal um einkaufen zu gehen.

Dies ist ein typisches Szenario in toxischen Familien. Denn ein Mensch wird selten im luftleeren Raum toxisch. In aller Regel hat er sein manipulatives, gewalttätiges Verhalten von einem toxischen Elternteil oder ähnlichen Einflüssen erlernt. Es ist also nicht verwunderlich, dass es hier eine Mutter mit toxischem Verhalten gegeben haben könnte. Wie weit dieses toxische Verhalten sogar gegangen sein könnte, wird sich später noch zeigen.

7. Manipulatives, passiv-aggressives, übergriffiges Verhalten seiner Mutter gegenüber Petito

Petitos Mutter erzählt, dass sie eines Tages einen Brief von der Post erhielt, in dem stand, dass die Adresse ihrer Tochter wieder die ihrer Eltern sei, nicht mehr die ihres Freundes. Sie wohnte also bei den Eltern ihres Freundes, doch ihre offizielle Anschrift sei jetzt wieder die alte, 2.000 Kilometer entfernt. Petito hatte die Mutter ihres Freundes in Verdacht, wollte aber nicht darüber reden.

Ein manipulatives, passiv-aggressives und übergriffiges Verhalten wie dieses ist insofern typisch für toxische Menschen, als dass sie sich nicht einmal für die perfidesten Manipulationen und unterschwelligen Aggressionen zu schade sind. Viele Opfer toxischer Menschen berichten z. B., dass ihre Post immer wieder „verschwunden“ ist oder geöffnet wurde. Oder dass diese Menschen sich mir-nichts-dir-nichts über ihren Willen und ihre Grenzen hinweggesetzt haben, über sie bestimmt haben, die Opfer sich aber nie auch nur getraut haben, sie darauf anzusprechen.

8. Der Freund vergriff sich an Petitos Eigentum, um sie daran zu hindern auszugehen

Eine Freundin von Gabby Petito berichtet, dass die beiden abends ausgehen wollten. Als Petito schon bei ihrer Freundin ankam, habe sie bemerkt, dass sie ihr Portemonnaie mit ihrem Ausweis nicht dabei hatte. Also sei sie zurückgefahren, um es zu holen, da sie den Ausweis brauchen würde. Zu Hause habe sie festgestellt, dass ihr Freund das Portemonnaie entwendet habe, weil er nicht wollte, dass sie ausging.

Dieses Verhalten fällt in die gleiche Kategorie wie das eben beschriebene: es ist manipulativ, passiv-aggressiv und übergriffig. Und sie üben es aus, um Macht und Kontrolle zu haben. Der Freund konnte es offensichtlich nicht ertragen, dass Petito ohne ihn Spaß haben könnte, und versuchte auf diese Weise, sie zu zwingen, zu Hause zu bleiben.

9. Plötzliche Verlobung, aber Petito erzählte davon nichts

Mit offenbar ziemlich pathetischen, schwülstigen Worten und ohne Ring machte Petitos Freund ihr einen Antrag. Angeblich habe es auch ein „Zeichen von oben“ gegeben, das diese Verbindung unterstütze, denn es habe sich ein Glühwürmchen auf Petitos Ringfinger gesetzt. Petitos erzählte ihrer Familie aber nichts davon.

Pathethische, schwülstige Worte und Bilder sind sehr typisch für einen toxischen Menschen. Besonders dann, wenn er merkt, dass sein:e Partner:in womöglich auf dem Absprung ist, und er sie deshalb noch stärker an sich binden will.

Typisch ist auch, dass seine Eltern von der Verlobung wussten, dass aber Petito ihren Eltern nichts davon erzählte. Dieses Verhalten kennen wir bereits vom Beginn der Beziehung (Punkt 2), doch hier ist es möglicherweise schon so weit, dass Petito die Kritik der Eltern bereits kannte. Und da es schon anstrengend genug ist, ihre widersprüchlichen Gefühle unter einen Hut zu bringen und darum zu kämpfen, die Beziehung zu verbessern, können Opfer sich in einer solchen Situation oft nicht auch noch der Kritik Außenstehender aussetzen. Also halten sie einen solchen Schritt häufig längere Zeit geheim.

10. Sie liebte ihren Job, er würdigte sie deshalb herab, sie entschuldigte sich

Gabby Petito wollte auf Reisen gehen und darüber ein Vlog (Video-Blog) führen, in der Hoffnung, damit Geld verdienen zu können. Sie kaufte zu diesem Zweck einen Van. Um den abzuzahlen, ging sie 50 Stunden/Woche in einer Fast-Food-Kette arbeiten. Sie hatte offenbar sehr viel Spaß bei der Arbeit. Und nach Feierabend verbrachte sie noch viel Zeit mit ihrer Freundin. Ihr Freund aber machte sie dafür runter, dass sie mit „solchem Abschaum“ arbeite. Er warf ihr außerdem vor, nun selbst zu solchem geworden zu sein. Daraufhin entschuldigte SIE sich bei IHM, nicht umgekehrt.

Diese Dynamik ist sehr typisch: Das Opfer entzieht sich der Kontrolle des toxischen Menschen. Daraufhin würdigt der das Opfer herab, um es zu nötigen, vor lauter Scham, Schuldgefühl und Besserungswillen wieder unter seine Kontrolle zu kommen. Denn er sieht es als seinen Besitz, nicht als gleichberechtigten Menschen auf Augenhöhe. Und das Opfer entschuldigt sich immer wieder bei ihm für etwas, für das es meistens absolut nichts kann, nur um zu versuchen, den Frieden wiederherzustellen.

11. Er bezog ihre Mutter mit ein, um den Druck auf sie zu verstärken

Um seinen Willen durchzusetzen, erhöhte der Verlobte nun den Druck auf Gabby Petito: Er rief ihre Mutter an. Die erzählt, er habe sich beklagt, dass Petito so viel arbeite und dann auch noch mit Leuten ausginge, die (angeblich) einen schlechten Einfluss auf sie hätten. Petitos Mutter glaubte ihm. Etwas später „entschuldigte“ er sich bei Petito, behauptete, er säße weinend im Bad, und er wolle doch nur nicht, dass sie ihn verließe. Ob er wirklich im Bad geweint hat, kann natürlich niemand mehr nachprüfen. Doch irgendetwas brachte Gabby Petito dazu, SICH wieder bei IHM zu entschuldigen und ihn zu beruhigen, sie würde ihn „nie verlassen!!!“ (mit original drei Ausrufezeichen). Inwieweit sie so aufgrund des Einflusses ihrer Mutter reagiert hat, ist nicht bekannt.

Bekannt ist aber diese toxische Methode der Einbeziehung Dritter mit dem Vorsatz, dass die das Opfer beeinflussen – natürlich im Sinne des toxischen Menschen. Diese Dritten nennt man „Flying MonkeysFragezeichen © Toxiversum, und sie können leider extrem effektiv sein. In vielen Fällen tragen sie z. B. tatkräftig dazu bei, dass Opfer in gewalttätigen Beziehungen bleiben, anstatt sich zu lösen.

12. Angebliche Bemühung seinerseits um eine Besserung

Was wir „Future-Faking“ Fragezeichen © Toxiversum nennen, also das Vortäuschen einer Zukunft, die es so nie geben wird, passierte auch hier. Gabby Petitos Verlobter schien immer mehr die Kontrolle über sie zu verlieren. Also zog er weitere Register und versuchte es auch mal auf die sanftere Tour. Er schickte ihr Nachrichten, dass er versuche, sein Leben auf die Reihe zu bekommen.

Vielleicht hat er es wirklich versucht. Doch in aller Regel versuchen toxische Menschen dies gar nicht erst. Sie behaupten es nur und tun so als ob, um ihr Opfer wieder für eine Weile ruhigzustellen. Doch sie haben nie vor, sich ernsthaft zu ändern. Und alles, was sie begonnen haben (z. B. eine Therapie), brechen sie sehr bald unter irgendwelchen Vorwänden wieder ab.

13. Verwirrende Nachrichten mit scheinbarem Wortsalat

In der Doku wird eine SMS des Verlobten gezeigt, in der er seinen Frust darüber äußerte, dass Gabby Petito ihm nicht antworten würde. Dem folgte der kryptische Satz: „Ich vermisse dich so sehr du tust mir weh“ (ja, ohne Komma; „DU tust mir weh“, nicht „ES tut mir weh“!).

In diese Nachricht könnte man viel hineininterpretieren, u. a. ein vorübergehendes Unvermögen (aus Frust, dem Schmerz des Vermissens o. Ä.) sich klar zu äußern. Doch toxische Menschen senden häufig solche Nachrichten. Sie sollen Aufmerksamkeit erzeugen, Scham und Schuldgefühle, aber sie sollen gleichzeitig missverständlich sein. Denn, egal wie das Opfer auf die Nachricht reagiert, der toxische Mensch kann sich immer rausreden, er habe das gar nicht so gemeint, sondern ganz anders. Solche Menschen nutzen Wortsalat ganz bewusst, um einerseits nicht angreifbar zu sein, und andererseits das Opfer total zu verwirren und dazu zu bringen, ständig darüber (und über den toxischen Menschen) nachzugrübeln. Heißt: Auch damit versuchen sie wieder, Macht und Kontrolle über ihr Opfer zu erlangen.

14. Sie versuchte Grenzen zu kommunizieren, verpackt in Besänftigungen

Die Netflix-Doku zeigt außerdem eine SMS von Gabby Petito an ihren Verlobten: „Versuche nicht, mich zu kontrollieren, denn das macht mich nur wütend. Ich liebe dich so sehr, aber was mir am meisten wehtut, ist die Art und Weise, wie du mit mir sprichst.“

Diese Art von berechtigter Kritik mit gleichzeitiger Kommunikation ihrer Grenzen, verpackt in die besänftigende Botschaft, diesen Menschen sehr zu lieben, kennen sehr viele Opfer. Sie erkennen, dass das Verhalten dieses Menschen nicht richtig, vielleicht sogar schädlich und zerstörerisch ist. Und sie flehen den toxischen Menschen wieder und wieder an, sie endlich besser zu behandeln. Doch obwohl sie diese Botschaften meistens mit einem besänftigenden, liebevollen Zuspruch versehen, ändert sich nichts. Oft wird das toxische Verhalten danach sogar noch schlimmer.

15. Sie klang künstlich, er schien ganz entspannt zu sein

Als die beiden nun in dem Van unterwegs waren, nahm Gabby Petito immer wieder Videos für ihr neues Vlog auf. Sie klang darauf künstlich, angespannt, manchmal genervt. Man sah ihr nicht an, dass sie wirklich Spaß an diesem Reiseleben hatte. Ihr Verlobter dagegen sah auf den meisten Videoausschnitten ziemlich entspannt aus.

Dieser Eindruck gleicht dem, den viele Leute von toxischen Menschen und ihren Opfern haben: Der toxische Mensch ist gelassen, entspannt und genießt sein Leben. Sein Opfer hingegen steht permanent unter Spannung, versucht, möglichst unauffällig zu sein, und hat sich in seinem Verhalten merklich verändert.

16. Sie reduzierte den Kontakt zu ihrer Freundin

Gabby Petitos Freundin berichtet, dass Petito nun den Kontakt zu ihr reduzierte. Sie sprachen nur noch alle paar Wochen über FaceTime. In ihrem Tagebuch schrieb Petito in diesem Zeitraum, sie müsse ihrem Verlobten mehr Zeit widmen, statt immerzu für ihr Vlog zu arbeiten. Sie habe Glück, dass er bei ihr bliebe.

Auch das ist sehr typisch für toxische Beziehungen. Ist man erst so unglücklich, dass man es vor der Familie oder den besten Freund:innen nicht mehr verbergen kann, reduziert man den Kontakt. Man hat so wenig Kraft, dass man Diskussionen mit ihnen nicht auch noch ertragen könnte. Insbesondere dann nicht, wenn die immer wieder mahnen, man solle diesen Menschen endlich verlassen.

Der Tagebucheintrag spricht ebenfalls Bände: Petito arbeitete nun nicht mehr 50 Stunden im Fast-Food-Restaurant und ging anschließend nicht mehr mit Freund:innen aus. Sie war jetzt 24/7 bei ihrem Freund. Doch natürlich musste sie Geld verdienen und verbrachte deshalb viel Zeit mit ihrem Handy, drehte Szenen mehrfach, lernte die nötigen Programme dafür kennen usw. Nur hat dem Verlobten das immer noch nicht gereicht. Toxische Menschen reden ihren Opfern in solchen Situationen dann ein: Du musst mehr Zeit mit mir verbringen, mehr in unsere Beziehung investieren. Ich kann die ganze Beziehungsarbeit nicht alleine machen! oder Du kannst von Glück reden, dass ich überhaupt noch bei dir bleibe! Auch das nur, um Macht und Kontrolle über das Opfer zu verstärken.

17. Sie erlebte körperliche Gewalt

Bilder von Verletzungen in Gabby Petitos Gesicht zeigen, dass die anhaltende seelische und emotionale Gewalt spätestens jetzt in körperliche Gewalt umgeschlagen war.

„Nicht selten ist es nur ein kleiner Schritt von der sprachlichen Aggression zur körperlichen Gewalt“. (Peter Schlobinski, Michael Tewes)

Immer wieder erlebe ich Opfer (insbesondere Frauen), die trotz all der bisher erlebten verbalen, seelischen und emotionalen Gewalt den Beschwörungen des toxischen Menschen glauben, dass er ihnen niemals (körperlich) wehtun würde. Bis er es dann doch tut. Denn selbstverständlich sind auch solche Schwüre reines Future-Faking, also das Vortäuschen einer Zukunft, die es so nie geben wird.

18. Das Gewaltopfer nahm alle Schuld auf sich … und wurde als Täterin behandelt

Der Moment, in dem das Schicksal von Gabby Petito der Weltöffentlichkeit bekannt wurde, kommt auch in der Doku vor. Wir hören, dass jemand einen Notruf abgesetzt hatte: Er hätte gesehen, wie eine junge Frau mehrfach von einem jungen Mann geschlagen wurde. Daraufhin machte die Polizei das Paar ausfindig, stoppte es an einer Straße und befragte die beiden getrennt voneinander. Wir sehen, wie Gabby Petito weinte und schluchzte, wie sie von ihren starken Ängsten erzählte, aber sämtliche Schuld an der Gewalt, die stattgefunden hatte, auf sich nahm. Und das, obwohl sie sichtbare Verletzungen hatte.

Die Polizei stufte sie daraufhin als die Täterin ein. Sie hatten Kenntnis von den typischen Anzeichen häuslicher Gewalt, und einer der Polizisten äußerte sogar starke Zweifel daran, dass der Verlobte das Opfer sein sollte. Dennoch schickten sie den Verlobten in ein Hotel, in dem sie sonst von Gewalt betroffene Menschen unterbrachten. Petito hingegen sollte im Auto schlafen, in irgendeiner Billigkaschemme mal duschen und sich beruhigen. Eine Polizistin redete sogar auf sie ein, dass sie ihren Verlobten nicht hätte angreifen dürfen. Ihr wurde außerdem geraten, bis zum nächsten Morgen keinerlei Kontakt zu ihrem Verlobten aufzunehmen. Mit dem unterhielt sich ein Polizist noch sehr jovial, verglich ihm gegenüber völlig unangemessen Gabby Petito mit seiner Frau, die auch viele Ängste habe. Und dann kam es, wie es meistens kommt: Petito und ihr Verlobter hatten schon am selben Abend wieder Kontakt, trafen sich und fuhren gemeinsam weiter.

Hier beweist die Polizei, warum es dringend nötig ist, eine Fortbildung zu toxischer und häuslicher Gewalt zur Pflicht für alle Einsatzkräfte zu machen. Denn sie hat hier in großem Stil versagt. Auch das ist leider keine Seltenheit bei solchen Fällen. Toxische Menschen haben viel Übung darin, sich als die eigentlichen Opfer darzustellen. Sie sind deshalb ziemlich entspannt und zeigen mit Nachdruck jene Verletzungen vor, die ihr Opfer ihnen in Notwehr zugefügt hat. Sie wissen sehr genau, mit welchen Worten und Zuschreibungen sie ihr Opfer als eigentliche:n Täter:in präsentieren können. Und die Polizei fällt meistens darauf herein. Das Opfer hingegen hat unbeschreibliche Angst vor einer Eskalation der Gewalt und gleichzeitig dem Bruch der Beziehung, da es längst stark traumagebunden Fragezeichen © Toxiversum ist. Also nimmt es alle Schuld auf sich. Es weiß, damit kann es die Wut des toxischen Menschen nicht besänftigen, aber es versucht es trotzdem.

19. Petito überlegte, ihren Verlobten zu verlassen

Ihre Freundin berichtet, Petito habe immer noch geglaubt, sie könne das alles noch in Ordnung bringen und ihren Verlobten noch irgendwie zu einem guten Menschen machen. Zehn Tage nach diesem Vorfall mit der Polizei, berichtet ihr Ex-Freund, habe sie ihn allerdings angerufen. Sie habe ihren Verlobten verlassen wollen und habe dafür auch schon einen Plan gehabt. Doch sie habe so geklungen als wüsste sie nicht, was dann geschehen würde. Heißt, was ihr Verlobter ihr antun würde. Und damit lag sie offensichtlich goldrichtig. Denn kurze Zeit später war Gabby Petito tot.

Ihr Verlobter hat sie von Anfang an als Objekt betrachtet, das ihm gehörte. Sie wollte gehen. Das wollte er nicht zulassen. Toxische Menschen, insbesondere toxische Männer, glauben, sie hätten das Recht über Leben und Tod ihres Opfers zu bestimmen. So auch dieser Mann.

20. Das toxische Verhalten des Verlobten nach dem Mord an Gabby Petito

Nachdem er seine Verlobte umgebracht und sie, wie ihr Stiefvater in der Doku sagt, „wie Müll“ entsorgt hatte, unternahm dieser Mann Folgendes:

  • Er schickte ihrer Mutter eine SMS bezüglich ihres Großvaters, die nicht von ihr selbst stammen konnte.
  • Er simste zwischen seinem Handy und ihrem hin und her, und zwar so schnell hintereinander, dass sich das FBI sicher ist, dass nicht Gabby Petito die Antworten geschrieben hatte, sondern dass er das selbst war.
  • Er fuhr tanken und bezahlte mit Petitos EC-Karte.
  • Er schrieb eine angebliche Abschiedsnachricht von Gabby Petitos Handy auf seins und überwies anschließend 700 Dollar von ihrem Konto auf sein eigenes.
  • Er fuhr mit ihrem Auto zu seinen Eltern und verbarrikadierte sich dort.
  • Er weigerte sich, mit der Polizei zu sprechen, die inzwischen nach Gabby Petito suchte, hatte aber schon einen Anwalt an seiner Seite.
  • Er half zu keiner Zeit bei der Suche nach seiner Verlobten.
  • Er ging mit seiner Familie in dieser Zeit seelenruhig zelten, als sei nichts geschehen.
  • Er schrieb einen Brief, in dem er behauptete, Gabby Petito sei gestürzt und hätte solche Schmerzen gehabt, dass sie nicht mehr habe leben wollen. Dann schrieb er: „Ich beendete ihr Leben. Ich fand, das sei barmherzig.“
  • Schließlich verschwand er und brachte sich um. Angeblich, weil er nicht ohne Petito habe weiterleben können.

Und wenn du nun denkst, viel toxischer geht es doch wohl gar nicht, dann will ich nochmal auf die Mutter dieses Mannes zurückkommen. Auch sie weigerte sich, mit der Polizei zu sprechen. Gabby Petitos Eltern kontaktierten die Familie des Verlobten, weil sie sich Sorgen um ihre Tochter machten. Doch sie erhielten keine Antwort. Auch auf die öffentliche Bitte von Petitos Familie, ihnen bei der Suche nach der jungen Frau zu helfen, reagierte die Familie des Verlobten nicht.

Stattdessen schrieb die Mutter ihrem Sohn offenbar eine Nachricht mit dem Hinweis, diese zu verbrennen, nachdem er sie gelesen habe. Sie schrieb ihm u. a., egal, was er getan habe, sie würde ihn immer lieben. Hätte er eine Leiche, die vergraben werden müsste, würde sie ihm eine Schaufel und Müllsäcke bringen.

Was geschah danach?

In einem Rechtsstreit wegen widerrechtlicher Tötung einigten sich die Eltern von Gabby Petito mit den Eltern des Mörders auf Zahlung einer Geldsumme in Millionenhöhe. In einem Zivilprozess wurden die Eltern des Mörders beschuldigt, von dem Mord gewusst und den Täter gedeckt zu haben. Auch dieser Prozess wurde außergerichtlich beigelegt.

2021 gründete Gabby Petitos Familie die „Gabby Petito Foundation“. Mit dieser Stiftung wollen sie das Andenken an ihre Tochter bewahren, über häusliche Gewalt aufklären und Opfer dieser so häufigen Form der Gewalt unterstützen.

2024 wurde im Bundesstaat Florida der „Gabby Petito Act“ (SB 1224) erlassen. Diese Verordnung sieht u. a. vor, dass die Polizei bei Verdacht auf häusliche Gewalt eine sogenannte Letalitätsprüfung durchführt und dabei elf Fragen durchgeht. Diese Fragen sollen herausarbeiten, ob das Risiko besteht, dass eine Person durch eine:n Partner:in verletzt oder sogar getötet werden könnte.

Auch in Deutschland ist häusliche Gewalt noch immer erschreckend weit verbreitet. Das Wissen über die Red Flags, die toxischen Warnsignale, jedoch nicht. Bist du dir nicht sicher, ob du häusliche Gewalt erkennen würdest, dann kannst du hier einiges dazu lesen: „Was ist häusliche Gewalt und woran erkennst du sie?

Und ein letztes Warnsignal zum Schluss, das Gabby Petitos Vater in der Doku nannte:

Du solltest niemals Angst vor den Menschen haben, die du liebst!


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