Toxisches Verhalten: Hättest du es nicht bemerken müssen?

Toxisches Verhalten erkennen zu können, erscheint vielen ziemlich leicht … nachdem sie die toxischen Warnsignale kennengelernt haben. Oft sagen sie dann: „Das hättest du doch erkennen müssen!“ Sie glauben nicht, dass jemand nichts mitbekommen haben könnte. Also, hättest du es doch bemerken müssen?

Hinterher ist es ja bekanntlich immer leichter, alles mögliche zu erkennen. Und im Nachhinein weiß man meist auch sehr viel besser, was man hätte tun sollen. Noch besser weiß man, was andere hätten tun sollen. Wahrscheinlich kennst du auch solche Leute, die gerne Bemerkungen darüber fallen lassen, wie angemessen, klug und mutig sie sich verhalten hätten, wenn sie an unserer Stelle gewesen wären. Die dir damit zu verstehen geben, dass du aus ihrer Sicht naiv, blind und dumm gewesen sein musst, um das toxische Verhalten nicht zu bemerken. Aber haben sie damit auch recht?

Toxisches Verhalten erkennen: leichter gesagt als getan!

Es gibt sie, die toxischen Warnsignale. Und gerade weil es sie gibt und weil sie bei vielen toxischen Menschen teils glasklar zu erkennen sind (wenn man weiß, wonach man suchen muss), ist es manchmal umso schwieriger nachzuvollziehen, dass jemand nichts bemerkt hat. Wie kann es z. B. sein, dass eine Frau sieben Jahre lang nicht bemerkt, dass ihr Ehemann fremdgeht – und nicht nur mit einer anderen Frau, sondern systematisch mit zahlreichen gleichzeitig? So geschehen z. B. in den USA, nachzuhören in dem englischsprachigen Podcast „Betrayal“. Aufgeflogen ist dieser Mann erst, als er wegen sexueller Gewalt gegen eine 15-Jährige verhaftet wurde. Aber hätte seine Frau nicht etwas bemerken müssen?

Viele werden jetzt sagen: „Natürlich! Wie kann sie das nicht bemerken?!“ Doch so einfach ist es nicht. Denn toxisches Verhalten zu erkennen ist sehr viel leichter gesagt als getan. Erst recht dann, wenn es um einen Menschen aus dem engsten persönlichen Umfeld geht. Ja, es gibt die toxischen Warnsignale, und manche davon sind leichter erkennbar als andere. Jedoch ist es absolut möglich, dass man nicht das Geringste bemerkt. Wie kann das sein?

Darum erkennen viele toxisches Verhalten nicht

Die Gründe dafür, dass du toxische Warnsignale und toxisches Verhalten vielleicht nicht bemerkst, sind vielfältig und sehr individuell. Hier sind einige davon:

  1. Du weißt es nicht besser.
    Wir wissen oft gar nicht, worauf wir überhaupt achten müssten. Dass wir es theoretisch alles in Büchern oder im Internet finden könnten, setzt ja voraus, dass wir überhaupt wissen, womit wir es zu tun haben. Wissen wir das nicht, können wir die Warnsignale oft gar nicht ausreichend einordnen, um eine informierte Entscheidung (z. B. akzeptieren oder wehren, bleiben oder gehen) treffen zu können.
  2. Toxische Menschen haben Übung im Verstellen.
    Toxische Menschen sind sehr gewieft darin, anderen Menschen vorzuspielen, dass sie ganz normale und völlig harmlose Menschen sind. Sie haben diese Rolle ihr Leben lang einstudiert.
  3. Du traust ihnen toxisches Verhalten nicht zu.
    Eben weil sie sich so gut verstellen können, trauen wir ihnen toxisches Verhalten gar nicht zu. Denn nach außen hin erscheinen diese Menschen ja total nett, umgänglich und wie der Typ „perfekter Schwiegersohn/perfekte Schwiegertochter“. Der Satz „Das kann gar nicht sein, der ist doch so nett“ ist sicher einer der häufigsten, die Opfer toxischer Menschen hören. Ähnlich wie es nach Morden sehr häufig heißt: „Niemand hätte diesem Menschen einen Mord zugetraut. Er war immer freundlich und hilfsbereit, hat immer gegrüßt, da gab es absolut keine Warnzeichen.“
  4. Du gibst ihnen einen Vertrauensvorschuss.
    Gehen wir eine Vereinbarung mit einem anderen Menschen ein, dann weil wir darauf vertrauen, dass sich der andere Mensch an diese Vereinbarung hält. Ob wir zusammenziehen, heiraten, eine Wohnung mieten, eine Arbeitsstelle antreten oder einem Verein beitreten: Immer gehen wir davon aus, dass das Gegenüber sich weitestgehend an die gängigen Regeln hält. Sonst könnte unsere Gesellschaft gar nicht funktionieren, und es wären auch keine engen Beziehungen möglich. Diesen Vertrauensvorschuss wissen toxische Menschen hervorragend für ihre Zwecke auszunutzen.
  5. Du hörst nicht auf deine Intuition.
    Wir haben gelernt, nicht (mehr) auf unsere Intuition zu hören, sondern uns darüber hinwegzusetzen. Selbst wenn sie uns warnen würde, würden wir dies entweder nicht wahrnehmen oder fehlinterpretieren.
  6. Du erklärst das Toxische weg.
    Wir haben für jedes Warnsignal eine Erklärung. Die Psychologie der letzten Jahrzehnte hat einiges dafür getan, auch für jene Verhaltensweisen um Verständnis zu werben, die nachweislich toxisch sind. Die schwierige Kindheit bspw. ist sicher eine der häufigsten Erklärungen, die für toxisches Verhalten herhalten müssen – und dies machen sich toxische Menschen nur zu gerne zunutze.
  7. Du hast Angst vor den Konsequenzen.
    Wir finden aber auch vergleichsweise harmlose Erklärungen für toxisches Verhalten, weil wir Angst vor den Konsequenzen haben, die die Anerkennung der Realität für uns haben könnte. Das drohende Ende einer Ehe, Jobverlust, finanzielle Unsicherheit, Verlust der Wohnung, des Lebensmittelpunkts und des Freundeskreises u. v. m. sind gute Gründe für sehr reale Ängste, und sie können dazu beitragen, dass unsere Erklärungen logischer klingen als die Realität.
  8. Du willst es nicht erkennen.
    Manchmal wollen wir toxisches Verhalten aber auch nicht erkennen. Wir wollen in diese Abgründe nicht hinabsteigen müssen, sondern sind ganz zufrieden damit, an der Oberfläche zu bleiben. Hier und da kann das allerdings auch in toxische Positivität Fragezeichen © Toxiversum ausarten.
  9. Du bist häufig abwesend.
    Viele Menschen bemerken toxisches Verhalten nicht, weil sie schlicht zu häufig weg sind. Sie bekommen das meiste davon (und das Schlimmste) gar nicht mit. Geschweige denn, dass sie die Möglichkeiten hätten, all die subtilen Anzeichen zu bemerken.
  10. Du bist zu sehr mit dir selbst beschäftigt.
    Manche sind auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um die Muster toxischer Menschen hinterfragen zu können. Insbesondere Opfer, die ein toxischer Mensch immer wieder kritisiert und denen er ganz gezielt vermeintliches Fehlverhalten und Versagen vorwirft, können manchmal vor lauter Beschäftigung mit diesen Dingen gar nicht sehen, was sich wirklich hinter dieser Kritik verbirgt.
  11. Du bist vorbelastet.
    Viele Opfer toxischer Menschen sind vorbelastet. Sie hatten vielleicht schon einmal eine toxische Beziehung oder sind z. B. mit mindestens einem toxischen Elternteil aufgewachsen. Und sie haben in diesen Beziehungen gelernt, das toxische Verhalten hinzunehmen, die Fehler immer zuerst bei sich selbst zu suchen und sich auf die positiven Seiten des toxischen Menschen zu konzentrieren, nicht auf die negativen.
  12. Du steckst zu sehr drin.
    Vielleicht denkst du, dieser Mensch ist etwas eigenartig, sehr bestimmend, hat gerne die Kontrolle oder Ähnliches. Aber du erkennst das Ausmaß des Ganzen nicht, weil du mittendrin steckst und damit zu nah dran bist. Du kannst den sprichwörtlichen Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, ähnlich wie den Schlüssel, den du ewig lange suchst, obwohl du ihn längst in der Hand hältst.
  13. Du glaubst, diesen Menschen gut zu kennen.
    Vielleicht kennst du diesen Menschen schon ziemlich lange und glaubst deshalb, ihn wirklich gut zu kennen. Die lange Zeit, die Gewohnheit und die Manipulation durch den toxischen Menschen trägt dazu bei, dich bei ihm sicher zu fühlen. Dass er das ausnutzt – auf die Idee kämst du nie. Auch nicht, dass er bald jede zulässige Grenze überschreiten wird.
  14. Deine Traumabindung ist zu stark.
    Traumabindung Fragezeichen © Toxiversum kann einen großen Einfluss darauf haben, was wir bei einem toxischen Menschen als toxisch einstufen und was nicht. Sie macht uns von solchen Menschen emotional abhängig und sorgt dafür, dass wir sie selbst bei schlimmster Gewalt noch vor anderen Menschen verteidigen. In dieser Situation ist es oft unmöglich, toxische Warnsignale rechtzeitig korrekt einzuordnen.
  15. Sie sind doch so nett.
    Eine der Maschen toxischer Menschen ist die, anderen das vorzuspielen, was die sehen wollen. Oder sie spielen eine Rolle, die sie erst ablegen, wenn sie sich am Ziel wähnen. Bis dahin sind sie die freundlichen, unauffälligen, hilfsbereiten Menschen von nebenan. Mit diesem Bild vor Augen kannst und willst du einfach nicht glauben, dass dieser Mensch eiskalt und abgrundtief böse sein könnte.
  16. Sie sind sehr erfolgreich.
    Hat dieser Mensch Einfluss, Geld und Erfolg, dann hinterfragen grundsätzlich nur sehr wenige, wie dieser Mensch überhaupt dorthin gekommen ist. Es ist, als würden Status und Erfolg das Toxische ausradieren. Wir bewundern diesen Menschen vielleicht oder hoffen, dass sein Glanz auch ein bisschen auf uns abfärbt. Und können oder wollen deshalb das Gift dahinter nicht bemerken.
  17. Ihre Unterstützer:innen können sich doch nicht alle irren.
    Toxische Menschen haben meistens sehr viele Unterstützer:innen, da sie ohne ihren toxischen Fanclub Fragezeichen © Toxiversum nicht existieren können. Diesen Fanclub hegen und pflegen sie, damit der jederzeit bereit ist, sich für sie vors Auto zu werfen. Nach außen hin sieht es dann so aus, als seien toxische Menschen sehr beliebt. Und diese ganzen Unterstützer:innen, glauben wir also, können sich doch nicht alle irren. Also folgen wir ihrer Meinung und lassen uns durch irgendwelche vermeintlich Missgünstigen, Rachesüchtigen oder Loser:innen nicht davon abbringen, rein gar nichts Toxisches an diesen Menschen zu finden.

Dies sind nur einige der Gründe, warum du toxisches Verhalten nicht immer hättest bemerken können. Das Ganze ist sehr komplex, und toxische Menschen sind sehr verschieden. Die Bandbreite ihrer Schauspielerei ist teilweise sehr groß, und sie wissen genau, wem sie was, wann und wie lange vorspielen müssen, um an ihr Ziel zu kommen.

Hinzu kommt, dass wir schwieriges Verhalten zwar gut erkennen können. Doch die Einordnung, ab wann das schwierige Verhalten toxisch ist und inwiefern es toxisch ist – diese Einordnung können wir oft erst lange nach dem Ende der Beziehung vornehmen.

Kann es also wirklich sein, dass du innerhalb einer Beziehung nicht bemerkst, dass sich ein Mensch äußerst toxisch verhält? Ja, es kann sein, leider. Und es heißt nicht, dass du deshalb vor den Auswirkungen des toxischen Verhaltens in irgendeiner Weise verschont bleibst. Du wirst es genauso abbekommen wie jedes andere Opfer toxischer Menschen. Umso wichtiger ist es, dir über die toxischen Methoden klarzuwerden und die Warnsignale nicht außer acht zu lassen.

Bitte beachte: Dieses Portal wird ausschließlich zu Informations- und Bildungszwecken bereitgestellt. Die Informationen geben wieder, was einzelne oder viele Menschen erleben bzw. erlebt haben und was ihnen dabei geholfen hat. Die Informationen sind kein professioneller medizinischer, therapeutischer oder juristischer Rat und sollen diesen auch nicht ersetzen. Professionellen Rat hole dir bitte grundsätzlich an den entsprechenden Stellen, bevor du Informationen dieser Website anwendest. Die Ansichten und Meinungen, die hier wiedergegeben werden, entsprechen nicht notwendigerweise den Ansichten und Meinungen der Toxiversum-Redaktion. Und sie sollen niemanden – keinen Menschen, keine Gruppe, keinen Verein, keine Organisation, keine Institution, kein Unternehmen, keine Kultur und keine Religion – verunglimpfen. Alle Tipps und Hinweise, die du hier liest, wurden zwar von vielen Menschen praxiserprobt. Doch es kann leider niemand garantieren, dass sie dir helfen werden. Man kann außerdem nie die Reaktion toxischer Menschen vorhersehen, wenn sie das neue, ungewohnte oder unerwartete Verhalten einer Person irritiert und wenn sie sich dadurch verletzt oder angegriffen fühlen. Bitte achte deshalb immer zuallererst auf deine Sicherheit und suche dir immer – besonders im Notfall, aber nicht nur – Hilfe! Beachte bitte auch den Disclaimer.