Warum geht jemand immer wieder zu einem toxischen Menschen zurück?

Erfahren wir, was hinter den Kulissen einer toxischen Beziehung wirklich abgeht, denken wir: Also nee, da wäre ich ja sofort raus! Das klingt logisch, und viele gehen tatsächlich. Denn wer will sich schon freiwillig ungebetener Gewalt aussetzen? Aber warum gehen einige trotzdem immer wieder zu einem toxischen Menschen zurück?

Wir alle haben schon einmal von einem Menschen gehört, der Gewalt in einer Beziehung erfahren, sich daraufhin getrennt hat und dann, entgegen allen Beteuerungen, doch wieder zu dem gewalttätigen Menschen zurückgegangen ist. Manche trennen sich gefühlt alle naselang und gehen jedesmal wieder zurück. Wir bleiben kopfschüttelnd zurück, denn es ist für uns kaum nachvollziehbar, wieso sich jemand scheinbar freiwillig wieder und wieder in die Gefahr begibt, weiter verletzt zu werden. Die logische Folgerung scheint zu sein: Dann muss ja etwas mit dieser Person nicht stimmen, die immer wieder zurückgeht. Denn kein normaler Mensch würde so etwas tun. Oder? Doch diese Folgerung ist grundfalsch. Denn in der Beziehung stimmt nur mit einer einzigen Person etwas nicht: dem Menschen, der die Gewalt ausübt. Aber was um Himmels willen bewegt Menschen dazu, zu Gewalttäter:innen zurückzugehen? Eins ist sicher: Von „freiwilligem Zurückgehen“ kann hier keine Rede sein.

Aus welchen Gründen geht jemand zu einem toxischen Menschen zurück?

Dass überhaupt je ein Mensch zu einem gewalttätigen Menschen zurückkehrt, hat ganz klare Gründe. Kurz gesagt, ist dafür in erster Linie die Traumabindung des Opfers verantwortlich. Der Begriff Traumabindung bezeichnet die emotionale Abhängigkeit eines vor allem von seelischer und/oder körperlicher Gewalt betroffenen Opfers von einem toxischen Menschen. Sie setzt alle natürlichen Reflexe von Flucht oder Abwehr außer Kraft und ersetzt sie einerseits durch Versuche des Opfers, sich möglichst unauffällig, zugeneigt/liebevoll und/oder unterwürfig zu verhalten, um nicht weiteren Zorn, Willkür und Gewalt auf sich zu ziehen. Andererseits entwickelt das Opfer scheinbar normale Gefühle dem toxischen Menschen gegenüber, steht für ihn ein und stellt sich trotz der Gewalt schützend vor ihn. Traumabindung ist ein wichtiger Schlüssel zu der Frage, warum Opfer es so lange mit toxischen Menschen aushalten, selbst wenn es ihnen mit diesen Menschen unfassbar schlecht geht. Oder warum sie wieder und wieder zu diesen toxischen Menschen zurückkehren.

Wie entsteht die Traumabindung von Opfern an die Täter:innen?

Wie im gesamten Umgang mit seinen Opfern geht ein toxischer Mensch auch hier weitgehend strategisch vor. Sein Ziel ist es, das Opfer mürbe zu machen, seinen Widerstand zu brechen und es dadurch leichter kontrollieren und dominieren zu können.

Toxische Menschen verfügen über wenig bis gar keine emotionale Empathie. Sie können sich also wenig bis gar nicht in andere Menschen hineinfühlen. Dabei ist gerade dieses tiefe Mitempfindenkönnen mit einem anderen Menschen für sehr viele eine der wichtigsten und selbstverständlichen Voraussetzungen, um sich auf eine Langzeitbeziehung mit jemandem einlassen zu können. Zwar verfügen toxische Menschen über kognitive Empathie, das heißt, sie können sich in jemanden hineindenken, und sie können sehr wohl verstehen, dass sie jemanden verletzen, wenn diese Person es ihnen (wieder und wieder) sagt. Doch das alleine genügt nicht, um Menschen an sich binden zu können. Sie benötigen aber eine starke Bindung des Opfers, damit sie es nach Gutdünken kontrollieren und dominieren können.

Der toxische Teufelskreis

Um das zu erreichen, hängt ein toxischer Mensch deshalb die Latte zu Beginn der Beziehung, in der sogenannten Idealisierungsphase, oft durch recht konstantes Love-Bombing Fragezeichen © Toxiversum und als „Interesse“ getarntes Data-Mining Fragezeichen © Toxiversum enorm hoch. Sehr häufig ist die Beziehung zu so einem Menschen deshalb am Anfang die beste, die das Opfer je hatte. Sie erscheint ihm ideal, und über die paar Minuspunkte, die es da schon erlebt, schaut es hinweg, denn wer ist schon perfekt, oder?!

Kreisdiagramm mit drei Feldern: Idealisierung, Abwertung und Entsorgung

Doch damit hat bereits der toxische Teufelskreis (s. Grafik oben) begonnen, aus dem es nur sehr schwer wieder herausfinden wird. Denn spätestens, wenn er sein Opfer da hat, wo er es haben will (geht es z. B. eine intime Beziehung zu ihm ein, zieht es mit ihm zusammen usw.), leitet der toxische Mensch die Abwertungsphase ein. Und dieses Zusammenspiel von Idealisierung und Abwertung ist das, was die Traumabindung initiiert und gleichzeitig extrem verstärkt. Denn es destabilisiert das Opfer, das im schlimmsten Fall irgendwann nicht mehr weiß, was richtig ist und was falsch.

Demütigungen, Gaslighting, Täter-Opfer-Umkehr und ständige Vorwürfe

Um sein Opfer nun abzuwerten, demütigt ein toxischer Mensch es wiederholt, macht abschätzige Bemerkungen, bissige Kommentare, schreit es an, macht es klein („Du bist so dumm!“), wertet sein Äußeres ab („Du siehst aus wie eine Nutte!“, „Mit dir kann ich echt nicht unter die Leute gehen, was sollen die von mir denken!“, „Du fette Sau!“, aber auch scheinbar liebevoll „Dickerchen“ u. Ä.). Und er stellt ständig die Wahrnehmungen, Einschätzungen, Gefühle und Gedanken des Opfers infrage (= Gaslighting Fragezeichen © Toxiversum). Er verhält sich respektlos, abweisend und wird sehr schnell wütend.

Er beschuldigt das Opfer, an all dem (angeblich) selbst schuld zu sein. Behauptet sogar, in Wirklichkeit sei er das Opfer (= Täter-Opfer-Umkehr Fragezeichen © Toxiversum). Er lässt immer raushängen, dass er (angeblich) die Macht und die einzige Expertise habe, die zähle, dass er deshalb der wichtigere Mensch von beiden sei. Er tut so, als sei er der Stärkere und kein solcher (angeblicher) „Schwächling“ wie das Opfer (obwohl das genaue Gegenteil der Fall ist). Er beschuldigt das Opfer aller möglicher Dinge, von denen er sehr wohl weiß, dass es die nie getan oder gedacht hat, aber dass der Vorwurf das Opfer tief treffen wird. Und er spricht dem Opfer das selbstständige Denken ab und kommandiert es deshalb herum.

Doppelmoral und intermittierende Verstärkung

Außerdem ist ein toxischer Mensch die personifizierte Doppelmoral. Er verhält sich immer wieder recht geheimnisvoll, gesteht dem Opfer aber keine Privatsphäre oder Geheimnisse zu. Er verlangt Einblick bspw. in die Kontaktliste auf dem Smartphone seines Opfers, verweigert ihm dies aber auf seinem Smartphone. Er verschwindet manchmal für ein paar Tage oder Wochen und ist absolut nicht erreichbar (während er auf Social Media in dieser Zeit sehr aktiv ist). Dann kommt er wieder und tut so, als sei nichts gewesen. Ist das Opfer aber mal für eine Stunde nicht erreichbar, weil es z. B. bei seiner Zahnärztin ist, dann hagelt es oft Vorwürfe. Als separater, individueller Mensch darf sein Opfer nicht existieren, während er sich ganz selbstverständlich als Individuum sieht, das auch einen Eigenwert jenseits der Beziehung hat.

Gleichzeitig betont ein toxischer Mensch immer wieder, dass sie beide ein Paar sind, dass sie einander doch so sehr lieben und deshalb zusammenhalten müssen. Und er macht dann immer wieder auch irgendetwas richtig Nettes, Liebevolles oder Großzügiges für das Opfer (= intermittierende Verstärkung Fragezeichen © Toxiversum). Außerdem behauptet er, dass andere ihnen beiden (aber besonders ihm) nur Schlechtes wollen. Ist es ein Mensch, der in der Öffentlichkeit steht, beschuldigt er oft die Medien und viele Follower:innen pauschal einer „Hetzjagd“. Denn da weiß er schon, dass das Opfer ihn bis aufs Letzte verteidigen und schützen wollen wird.

Die permanente kognitive Dissonanz

All das zusammengenommen sorgt für eine permanente kognitive Dissonanz bei dem Opfer. Eine kognitive Dissonanz entsteht, wenn du z. B. wahrnimmst, dass dich ein Mensch sehr schlecht behandelt, er aber immer wieder betont, dass er dich liebt – vielleicht sogar so sehr wie noch niemanden zuvor. Oder du frierst, und dieser Mensch sagt dir, es sei doch total warm. Oder du nimmst einen sehr unangenehmen Geruch wahr, und dieser Mensch sagt dir, das würdest du dir einbilden, da sei gar nichts. Er würde nur Zimt und Zitronen riechen. Oder er sagt dir, du seist so hübsch, aber kritisiert ständig dein Aussehen, dein Gewicht und deine Kleiderwahl.

Toxische Menschen versuchen, mit Hilfe zahlreicher solcher kognitiven Dissonanzen die Fähigkeit ihres Opfers außer Kraft zu setzen, Dinge korrekt wahrzunehmen, zu benennen und einzuordnen. Damit wollen sie ihm die Deutungshoheit (die sie sowieso fast immer für sich selbst beanspruchen) über alles Wichtige und Unwichtige in ihrer Beziehung absprechen, um auf diese Weise mehr Macht über das Opfer zu gewinnen. Denn fortan wollen sie es kontrollieren und ihm vorgeben, was es zu denken, wie es etwas zu benennen und einzuordnen hat.

In die Traumabindung spielt aber noch ein weiterer Faktor hinein, das Trauma des Vertrauensbruchs.

Das Trauma des Vertrauensbruchs (englisch: Betrayal Trauma)

Den Begriff des Traumas des Vertrauensbruchs (englisch: Betrayal Trauma) prägte die amerikanische Psychologin Dr. Jennifer Freyd. Er steht für den Vertrauensbruch in einem unausgesprochenen Abkommen. Beispielsweise setzen wir in einer intimen Liebesbeziehung natürlich voraus, dass unser:e Partner:in unser Wohlbefinden im Sinn hat, sich uns gegenüber auf Augenhöhe, ehrlich, fair, respektvoll und mit Anstand verhalten wird. Weshalb sonst sollten wir eine auf längere Zeit angelegte Beziehung mit ihnen eingehen, mit ihnen zusammenziehen und sie heiraten, richtig? Werden wir dann aber von eben diesem Menschen abgewertet, gedemütigt, manipuliert, und erleben wir womöglich nicht nur seelische und emotionale, sondern auch körperliche Gewalt und andere Formen der häuslichen Gewalt, dann ist das für uns ganz klar ein Vertrauensbruch.

Erlebt ein Opfer diesen Vertrauensbruch, möchte es aber nicht ebenfalls vertrauensbrüchig werden, weil das bspw. seinen Werten widerspricht oder es Angst vor den Folgen hat. Spätestens jetzt sitzt es in der Falle. Es versucht mit allen Mitteln, die es aus all seinen bisherigen normalen Beziehungen kennt, wieder den Zustand der Idealisierungsphase zu erreichen oder wenigstens ein gewisses Gleichgewicht und Fairness in die Beziehung zurückzubringen. Nur ahnt das Opfer nicht, dass nichts davon in einer Beziehung zu einem toxischen Menschen hilft.

Darum gehen Opfer toxischer Menschen zu ihnen zurück

Ein sehr großer Teil der Opfer toxischer Menschen kämpft auf diese Weise sehr, sehr lange um die Beziehung. Häufig mit gravierenden Folgen für Körper und Seele, die es noch viele Jahre belasten werden. Schafft es ein Opfer aber doch, aus dieser perfiden Nummer herauszukommen, heißt das noch lange nicht, dass es sich gleichzeitig auch aus der künstlich geschaffenen emotionalen Abhängigkeit, der Traumabindung, hat lösen können. Es wird eine sehr diverse Gefühlsmischung erleben, neben dem Gefühl, dass eine Last von ihm gefallen ist, häufig auch sehr starke Gefühle der Sehnsucht, der Angst und der Scham.

Nimmt der toxische Mensch dann wieder Kontakt auf und hoovert Fragezeichen © Toxiversum, was das Zeug hält, behauptet er, dass er ohne das Opfer nicht leben könne, dass er sich geändert habe und in Zukunft alles anders machen würde Fragezeichen © Toxiversum, dass er sogar eine Therapie begonnen oder seinen großen Fehler eingesehen habe (was in aller Regel gelogen ist) – dann geht das Opfer aufgrund der zuvor durch den toxischen Menschen so unbeirrt und strategisch aufgebauten starken Traumabindung wieder zurück. Nicht nur einmal, sondern oft auch mehrmals. Es kann gar nicht (mehr) anders.

Darum also gehen manche Menschen immer wieder zu einem toxischen Menschen zurück. Und dafür müssen diese Menschen tatsächlich unwahrscheinlich stark sein – sie sind keine schwachen, dummen Opfer, das sind die Opfer toxischer Menschen nie. Sie sind enorm stark und empathisch, denn das müssen sie sein, um diese Hölle, die toxische Menschen ihnen bereiten, überhaupt aushalten und diese Menschen dennoch mögen oder sogar lieben zu können. Umso wichtiger ist es, gerade diese Menschen nicht zu verurteilen, sondern sie nach einer Trennung aufzufangen und sie so gut zu unterstützen, dass ein toxischer Mensch mit seinem Hoovern und all den anderen manipulativen Taktiken keine Chance mehr bei ihnen hat. Aber auch und gerade dann, wenn sie noch einmal oder mehrmals zu einem solchen Menschen zurückgehen, brauchen sie unbedingt jedesmal unsere volle Solidarität und Unterstützung.

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