Was tun, wenn du mehr Angst vor dem Verlassen einer toxischen Beziehung als vor dem Bleiben hast? (1)

Wenn du mehr Angst vor dem Verlassen einer toxischen Beziehung als vor dem Bleiben hast, bist du damit leider nicht allein. Wie du mit dieser Angst und ihren Folgen umgehen kannst und was du tun solltest: bleiben oder gehen, weiß die Ärztin, Psychotherapeutin und Buchautorin Dr. Dunja Voos. (Teil 1)

Im Laufe einer Beziehung zu einem toxischen Menschen können sich sehr viele Ängste bei den Betroffenen anstauen (s. dazu auch „Toxische Menschen und ihr perfides Spiel mit der Angst“). Nur sind diese Ängste für die Betroffenen mit dem Verstand oft kaum zu greifen. Denn sie wissen bspw., dass es für sie wesentlich besser wäre, sich von diesem Menschen zu trennen – und doch scheint es ihnen völlig unmöglich, sich zu lösen. Außenstehende verleitet dies dann häufig zu Bemerkungen wie: „Also, ich würde ja sofort gehen“ (von wegen), „Dann kann es ja gar nicht so schlimm sein“ (Unsinn) oder „Wenn du trotzdem bleibst, dann bist du selbst schuld“ (noch größerer Unsinn). Unsensible bis rabiate Reaktionen wie diese können Opfer toxischer Menschen nicht nur zutiefst verletzen. Sie verstärken oft auch ihre Hilflosigkeit, Einsamkeit und Ängste.

Warum hast du mehr Angst vor dem Verlassen einer toxischen Beziehung als vorm Bleiben?

Es scheint ein unauflösliches Paradox zu sein: Einerseits spürt man, dass die Beziehung sehr toxisch und schädlich ist, dass die Angst vor der/dem Partner:in nicht abnimmt, sondern sich vielleicht sogar immer weiter ausbreitet. So weit, dass die eigene Unversehrtheit und Gesundheit beeinträchtigt sind.

Die Gründe für die Angst vor dem Verlassen einer toxischen Beziehung sind sehr unterschiedlich. Sie hängen von deiner aktuellen Situation, deiner Vorgeschichte und deiner Verfassung ab und setzen sich meist aus mehreren Gründen zusammen, z. B. diesen:

  • Ökonomische Gründe
    Du bist von dem toxischen Menschen finanziell abhängig. Vielleicht hast du auf seinen Wunsch deine Stunden im Job reduziert oder den Job ganz an den Nagel gehängt, um dich um ihn, den Haushalt und die gemeinsamen Kinder zu kümmern und seine Karriere zu unterstützen. Oder du bist zu diesem Menschen in eine andere Stadt gezogen, hast dafür deinen gut bezahlten Job hinter dir lassen müssen und keinen neuen finden können. Oder du stehst kurz vor dem Ruhestand und könntest mit deiner eigenen Rente nicht auskommen, da du dich immer darauf verlassen hast, dass die Rente des toxischen Menschen auch dir zugute kommen wird, nach allem, was du für ihn (und die gemeinsamen Kinder) getan hast. Vielleicht hast du aber auch – trotz deines guten Verdienstes – Angst davor, dass dir der toxische Mensch z. B. bei einer Scheidung oder Kündigung einen Gerichtsprozess an den Hals hängt. Toxische Menschen sind dafür bekannt, aus Rache Gerichtsprozesse bis in alle Ewigkeit hinauszuziehen und jedes juristische Mittel auszuschöpfen, um ihre Opfer möglichst in den finanziellen und gesellschaftlichen Ruin zu treiben.
  • Soziale Gründe
    Du fürchtest, durch eine Trennung aus dem gemeinsamen Freundes- und Bekanntenkreis, aus der Familie, der Nachbarschaft und/oder dem Kreis der Kolleg:innen bei der Arbeit ausgeschlossen zu werden. Du hast Angst, noch einmal ganz neu anfangen zu müssen, dir einen ganz neuen Freundeskreis usw. aufbauen zu müssen, da dein alter Kreis (mit tatkräftiger Mithilfe des toxischen Menschen) nicht mehr existiert. Oder du hast Angst vor einem sozialen Abstieg durch eine Trennung.
  • Familiäre Gründe
    Habt ihr gemeinsame Kinder, hast du vielleicht Angst davor, dass der toxische Mensch dir die Kinder aus Rache wegnehmen wird. Oder du hast Angst davor, den Kindern das andere Elternteil zu entziehen, das sie (noch) lieben.
  • Angst vor dem toxischen Menschen
    Du hast Angst vor diesem Menschen, fürchtest dich aber noch mehr vor dem, was er tun würde, wenn du ihn verlässt. Vielleicht hat er schon allzu realistisch klingende Konsequenzen angedroht oder dich versucht zu erpressen mit Drohungen wie: Wenn du gehst, bringe ich dich (und die Kinder) um! oder Wenn du mich verlässt, bringe ich mich um! (oder beidem).
  • Angst vor dem Alleinsein
    Du traust es dir nicht zu, nach dem Ende dieser Beziehung alleine auf die Füße zu kommen und dir ein neues Leben aufzubauen. Du hast Angst vorm Alleinsein-Müssen, der Überforderung durch die alleinige Verantwortung und der (deiner Ansicht nach) damit einhergehenden Hilflosigkeit und Ausgrenzung durch andere. Und du hast das Gefühl, dass deine Kraft dafür nicht mehr ausreicht.
  • Angst vor der Abwesenheit
    Du hast Angst vor der Abwesenheit des toxischen Menschen. „Es kann ein grausames Gefühl sein“, sagt die Psychotherapeutin Dunja Voos, „die Abwesenheit des Partners spüren zu müssen, wenn man ginge. Viele spüren diese Abwesenheit als starke körperliche Schmerzen.“ Insbesondere dann, wenn sie z. B. als Baby allein gelassen wurden oder mit toxischen Eltern aufwachsen mussten.
  • Angst vor dem Ende der Verbindung
    „In gewaltreichen Beziehungen entstehen oft starke Verbindungsgefühle zwischen Täter und Opfer“, sagt Voos. Diese Verbindung (auch Traumabindung Fragezeichen © Toxiversum genannt) entsteht zwar nicht durch die scheinbar vorhandene Liebe, sondern durch die Gewalt. Doch das Auflösen dieser starken Verbindung kann trotzdem sehr beängstigend sein.
  • Angst vor deiner eigenen Courage
    Du hast Angst, den Absprung am Ende doch nicht zu schaffen. Du kannst dir zwar die Trennung vorstellen, hast dafür vielleicht schon einiges in die Wege geleitet und deine engsten Vertrauten informiert. Doch wenn es soweit ist, wenn der Tag der Trennung, des Auszugs oder der Kündigung kommt, hast Du Angst, dich dann doch nicht zu trauen, dein Vorhaben durchzuziehen.
  • Angst vor der falschen Entscheidung
    Du hast Angst vor dem, was passieren könnte, wenn du kurz nach der Trennung das Gefühl bekommst, dass du die falsche Entscheidung getroffen haben könntest, es dann aber kein Zurück mehr gibt, erst recht keins in Würde.
  • Angst vor dem Unbekannten
    Du warst lange in dieser Beziehung, hast dich an den Alltag mit diesem Menschen gewöhnt und dich so weit darin eingerichtet, dass dir das Unbekannte, das außerhalb der Beziehung auf dich wartet, sehr überwältigend vorkommt und dir Angst bereitet.
  • Angst vor dem Ausmaß der Erkenntnis
    Du fürchtest dich vor der Bestätigung, dass du diesen Menschen all die Jahre womöglich gar nicht wirklich gekannt und völlig falsch eingeschätzt hast. Du hast vielleicht auch Angst, dass du dich im Zuge einer Trennung damit beschäftigen musst, wer er hinter der Maske wirklich ist. Und du fürchtest dich vor den Abgründen, die dabei zutage treten könnten.

All diese Ängste (und noch einige mehr) können dich lähmen und einander im Zusammenspiel sogar noch verstärken. Bei manchen, so Dunja Voos, kommen dann noch Ängste hinzu, die sie insbesondere aufgrund traumatischer Erfahrungen in ihrer Kindheit entwickelt haben, und die durch die Gewalt in der Beziehung immer wieder neu getriggert werden.

Auf jeden Fall aber wird das Ganze so kompliziert, dass du glaubst, nie einen Ausweg finden und dich aus all dem befreien zu können. Vielleicht sagt dir dein Verstand, dass nichts davon etwas ist, das du nicht bewältigen könntest. Doch dein Gefühl ist da völlig anderer Ansicht und hält dich zurück. Auch dann, wenn dir dein:e toxische:r Partner:in ebenfalls Angst macht. Einerseits ist also die Beziehung unerträglich. Andererseits ist allein die Vorstellung einer Trennung und ihrer Konsequenzen nicht auszuhalten. Zwischen diesen Polen bist du wie gefangen und verstehst womöglich die Welt nicht mehr.

„Wir erleben schon als Kinder eine starke Abhängigkeit. Ohne Mutter oder Vater können wir gar nicht überleben“, sagt Voos. Die Urangst, allein gelassen zu werden und dadurch möglicherweise den Umständen hilflos ausgeliefert zu sein, bleibe immer da. Insbesondere dann, wenn die Beziehung zu der Mutter oder dem Vater nicht gut war, wenn sie von Gewalt und Isolation geprägt war.

Sind wir dann in einer Partnerschaft, in der die/der Partner:in ebenfalls Gewalt ausübt, können all diese Ängste wieder aufflammen. Denn, so Voos, „wir haben so große Angst davor, verlassen zu werden und alleine zu sein, dass wir dem Partner die Macht verleihen, uns davor retten zu können. Vielleicht haben wir auch das Gefühl, nur durch den Partner leben zu können.“ Und daraus wiederum entsteht noch mehr Angst davor, dass er uns nicht mehr liebt und uns verlässt. Oder, falls wir ihn verlassen, dass er sich an uns rächt.

Woran kannst du erkennen, ob du Angst hast?

Die Frage mag merkwürdig klingen, weil du vielleicht denkst, du müsstest es doch wohl erkennen, wenn du Angst hast. Weil du dann leicht bis stark zitterst, dich unsicher fühlst, ins Schwitzen gerätst oder fliehen willst, oder? Doch so leicht ist es leider nicht. Ängste zeigen sich auf vielfache Weise, auch so, dass wir sie manchmal – ohne mehr darüber zu wissen – gar nicht als Ängste interpretieren würden.

„Angst äußert sich bei jedem Menschen komplett anders“, sagt Voos, und zwar auf seelischer wie auf körperlicher Ebene. „Sie kann ganz unspezifisch sein, oder sich zum Beispiel als Übelkeit zeigen, mit einer Panikattacke, einem Gefühl der Enge und dem Wunsch, weglaufen zu wollen. Oder auch als Ablehnung von Nähe und Berührungen, in mangelnder Lust auf Sexualität oder in einer plötzlichen Wut, die sich nicht genau verorten lässt.“

Doch Angst kann sich auch subtiler, in scheinbar ganz normalem Verhalten zeigen, z. B. in einem Rückzug vom privaten oder beruflichen Umfeld, in einer Reduktion von Kontakten und Kommunikation oder einer übermäßigen Konzentration auf die Arbeit, einer Flucht in Ablenkungen, Illusionen oder Drogen. Auch Prokrastination kann ein Symptom für Ängste sein.

Was kannst du gegen die Angst tun?

„Die Angst zu verleugnen, zu vermeiden oder zu verdrängen oder sich zu sehr an den anderen anzupassen – all das kann die Angst noch verstärken“, sagt Dunja Voos. „Es ist deshalb besser, sie ernstzunehmen und sich ihr zu stellen. Das ist ein bisschen wie bei einem Schmerz, den man ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr überhören kann. Körper und Seele melden sich, wenn sie unsere Hilfe brauchen. Wir haben ein natürliches Empfinden dafür, wann etwas an der Zeit ist.“

Oft können wir die Symptome allerdings nicht einordnen. Erst recht, wenn unsere Traumabindung zu stark ist. „Machen wir eine Therapie und werden dort Situationen nachgestellt“, so Voos, „können wir anhand unserer Reaktionen erkennen, dass die einen Bezug zu unserer Angst haben.“ Und wir können herausfinden, ob diese Angst ihre Wurzeln in der Kindheit hat oder rein auf die toxische Beziehung bezogen ist.

Doch längst nicht alle Betroffenen machen eine Therapie oder können eine machen. Nicht zuletzt übersteigt die Anzahl der benötigten Therapieplätze in Deutschland die der vorhandenen um ein Vielfaches. So können jene, die ihre Scheu oder Angst vor einer Therapie überwinden möchten und eine solche machen wollen, oft nichtmal einen Therapieplatz finden, wenn sie ihn am dringendsten benötigen.

Die Folgen können gravierend sein, sagt Voos. „Erkennen wir nicht, dass uns Ängste zurückhalten, sogar in gesunden Beziehungen, dann können sie sich ins Unbeschreibliche steigern. Und sie können einen Menschen richtig krank machen.“ Doch es gibt einen Weg da raus, sagt sie. Für diejenigen, die noch ohne Hilfe sind, hat sie deshalb ein Buch geschrieben: „Tritt aus dem Schatten deiner Angst. Tiefe Ängste verstehen, greifbar machen und überwinden. Dein 7-Schritte-Programm“.

Mehr zu dem Buch und den sieben Schritten sowie eine Antwort auf die Frage, ob du trotz deiner Angst die Beziehung verlassen solltest oder nicht, findest du in Teil 2.


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