Das in unserer Gesellschaft gern praktizierte Schönreden toxischer Gewalt hat Konsequenzen – nicht nur für die von dieser Gewalt direkt betroffenen Personen. Auch ihr Umfeld und ihr Arbeitsplatz leiden darunter. Und da toxische Gewalt erschreckend weit verbreitet ist, hat dies auch Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Was können wir da tun?
Was ist toxische Gewalt?
Die meisten verbinden mit dem Begriff toxische Gewalt Taten wie z. B. jemanden krankenhausreif zu prügeln, zu vergewaltigen oder umzubringen. Auch weil solche Fälle häufig in den Medien und der Kunst (v. a. Filme, Literatur) vorkommen. Doch toxische Gewalt ist noch sehr, sehr viel mehr. Und zwar emotionale, seelische und körperliche Gewalt, die ein toxischer Mensch gegenüber anderen ausübt.
Zu dieser toxischen Gewalt gehören u. a. Manipulation der Wahrnehmung, Gaslighting (mit Lügen, Druck, Verzerren der Realität, Verdrehen der Wahrheit, Abwertung und Projektion ), emotionaler Druck, Erpressung, Nötigung, Isolation, Entfremdung, Demütigung, Einschüchterung, Triangulation , Strafen, Racheaktionen, Zunutzemachen von Flying Monkeys und Enabler:innen und vieles mehr. All das ist typische toxische Gewalt, die toxische Menschen alltäglich und oft sehr bewusst zum Erreichen eines bestimmten Ziels (Ansehen, Macht, Geld, Kontrolle u. a.) gegen ihre Opfer einsetzen.
Inwiefern reden wir als Gesellschaft toxische Gewalt schön?
Es ist ein gefährliches Phänomen, dass sowohl wir als Gesellschaft als auch die betreffenden Opfer toxischer Gewalt diese häufig kleinreden. Als Gesellschaft tun wir dies, weil viele gar nicht wissen, dass es sich bei der toxischen Gewalt um Gewalt handelt. Denn allein körperliche Gewalt wird hierzulande bis heute häufig verharmlost. Und Gewalttäter:innen werden auf vielfältige Weise sogar heroisiert.
Und viel zu viele halten Gewalt immer noch für ein probates Mittel. Obwohl bspw. seit dem Jahr 2000 jede Art der körperlichen Bestrafung von Kindern verboten ist, stimmten laut einer Unicef-Studie 20 Jahre später immer noch unfassbare 52 Prozent der Bevölkerung zu, dass ein „Klaps auf den Hintern“ in Ordnung sei, 23 Prozent fanden Ohrfeigen in Ordnung, und 7 Prozent halten eine „Tracht Prügel“ für angemessenes Erziehungsverhalten Kindern gegenüber.
Seit Jahren wird insbesondere seitens der Politik beschworen, dass Gewalt abzulehnen sei. Nimmermüde folgen Floskeln auf Floskeln auf Berichte schockierender Gewalttaten. Doch gerade die Politik unternimmt nicht ansatzweise genug dafür, Gewalt einzudämmen. Das beste Beispiel dafür ist die Gewalt gegen Frauen, juristisch unter dem Begriff „häusliche Gewalt“ gefasst. Wie stark Frauen betroffen sind, zeigen die Statistiken: 2021 kamen in Deutschland allein auf 14 männliche Todesopfer aufgrund von Partnerschaftsgewalt 113 weibliche Todesopfer. Und die Zahlen steigen. In seinem TED-Talk nannte der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter die Gewalt gegen Frauen „die größte Menschenrechtsverletzung weltweit“. Und der körperlichen Gewalt geht so gut wie immer emotionale und seelische Gewalt voraus.
Dennoch geht es auch in den Medien, in preisgekrönten Spiel- und Dokumentarfilmen, in Podcasts, Krimis und Thrillern vor allem um schwerste körperliche Gewalt. Und nur selten um die weniger sichtbare, aber nicht minder schlimme oder gefährliche emotionale und seelische Gewalt. Eine wegweisende Auseinandersetzung mit den Ursachen und den Folgen des gesamten Spektrums toxischer Gewalt geschieht aber auch dort nicht.
Selbst die Wissenschaft beschäftigt sich vor allem mit den sichtbaren Formen der Gewalt. Veröffentlichungen wie das Gutachten „Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland“ von 2018 drehen sich vorrangig um körperliche Gewalt. Wird psychische Gewalt untersucht, wird dies bspw. lediglich mit eher pauschalen Fragen wie dieser getan:
„Sind Sie in den letzten 12 Monaten durch irgendeinen Menschen abgewertet worden (z. B. bezüglich Ihres Aussehens, Ihrer Art sich zu kleiden, Ihrer Denk-, Handlungs- oder Arbeitsweise oder möglicher Behinderungen)? Oder wurden Sie beleidigt, beschimpft, bedroht, schikaniert oder unter Druck gesetzt?“
Dies sind Fragen, die schon per se keine aussagekräftigen Ergebnisse bringen können. Sie sind zu allgemein gestellt, und sie beziehen nicht mit ein, dass auch so manche Opfer die toxische Gewalt schönreden.
Warum reden manche Opfer toxische Gewalt schön?
Man könnte meinen, wenn schon Politik und Gesellschaft so ein schlechtes Vorbild in Sachen Anerkennung, Untersuchung, Prävention und Ahndung von Gewalt abgeben, dass aber wenigstens die Opfer toxischer Gewalt selbst sie (an-) erkennen. Doch einige können das nicht.
Die Verharmlosung oder das Schönreden toxischer Gewalt klingt dann bspw. so:
- Es war doch nur ein Scherz.
- Das meint er nicht so.
- Das war ein Ausrutscher. In Wirklichkeit ist sie ganz anders.
- Es war doch nur eine Ohrfeige.
- Er hat mich ja nicht doll gewürgt.
- Sie hat gar nicht mit voller Kraft zugeschlagen.
- Es war nicht so schlimm.
- Es hat nicht wirklich wehgetan.
- Man hat die Flecken ja kaum gesehen.
- Es war ja bald verheilt.
- Es hat mir nicht geschadet.
- Ich hatte es verdient.
Bei solchen Relativierungen toxischer Gewalt, die immer wieder von Opfern zu hören sind, kann man nicht gesichert davon ausgehen, dass sie Fragen wie die oben zitierte korrekt beantworten würden. Doch warum verharmlosen sie die Gewalt gegen sich?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Unter anderem ist dafür das Gaslighting und die Nötigung der Opfer durch toxische Menschen verantwortlich. Sie setzen ihre Opfer unter Druck, erpressen sie und entwerten und verzerren ihre Wahrnehmung derart, dass viele die Gewalt nicht mehr als Gewalt erkennen können, sondern nur noch als etwas scheinbar „Normales“, „Harmloses“. Der toxische Fanclub unterstützt das, wenn sowohl der toxische Mensch als auch der Fanclub dem Opfer sagen, es „stelle sich an“, „solle nicht so hysterisch sein“, „nicht so empfindlich sein“ oder „nicht so übertreiben“. Die Gewalt klingt auch für Außenstehende oft unglaubwürdig, weil viele toxische Menschen nach außen hin die Rolle des harmlosen, anständigen, guten Menschen spielen.
Viele Opfer glauben auch, selbst schuld daran zu sein, Gewalt erlebt zu haben oder zu erleben (dazu sei gesagt: Schuld an toxischer Gewalt trägt ausschließlich die Person, die die Gewalt ausübt, nicht das Opfer!). Dass sie dies aber glauben, hängt ebenfalls mit dem Gaslighting durch den toxischen Menschen und der Gesellschaft zusammen. Bei unwahrscheinlich vielen Vergewaltigungen müssen sich bspw. die weiblichen Opfer anhören, dass sie durch ihr Verhalten, ihre Kleidung, ihren Alkohol- oder Drogenkonsum usw. selbst dazu beigetragen, wenn nicht sogar die Vergewaltigung herausgefordert oder gewollt hätten. Nicht nur Social Media ist voll mit diesen widerwärtigen falschen Unterstellungen. Auch die Justiz ist längst noch nicht frei davon, mit diesem Opferbild im Hinterkopf Urteile zu fällen.
Ein weiterer Grund, warum viele Opfer die Gewalt gegen sich schönreden, ist, dass sie ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen. Sie erkennen zwar, dass sie Gewalt erfahren haben. Doch der toxische Missbrauch hält sie in einem solchen Nebel gefangen, dass sie manchmal am nächsten Tag nicht mehr beschwören könnten, was wirklich passiert ist. Sie hinterfragen ihre eigenen Erinnerungen so sehr, dass ihnen andere Erklärungen für die seelischen und/oder körperlichen Verletzungen wesentlich plausibler erscheinen als die Tatsache, dass sie tatsächlich Gewalt erfahren haben.
Nicht zuletzt ist Scham ein gewichtiger Grund dafür, dass Opfer Gewalt verharmlosen. Denn in unserer Gesellschaft werden Opfer im negativen Sinne als schwach, hilflos und nicht unbedingt glaubwürdig dargestellt. Wer Opfer einer Gewalttat wird, wird häufig als „beschädigt“ angesehen und nur noch darüber definiert (dass der Begriff „Opfer“ mittlerweile schon auf den Schulhöfen als Schimpfwort benutzt wird, ist da auch nicht wirklich hilfreich). Niemand möchte sich freiwillig als Opfer bezeichnen lassen (außer toxischen Menschen selbst, aber das ist wieder eine andere Geschichte, denn, obwohl Täter:innen, stellen sie sich selbst sehr gerne als Opfer dar). Es ist vielen Betroffenen auch im ach-so-aufgeklärten 21. Jahrhundert immer noch peinlich, Opfer geworden zu sein. Gerade die seelischen Folgen möchten viele lieber für sich behalten und mit sich alleine ausmachen. Für viele ist es deshalb erheblich leichter, weniger schamvoll und mit geringeren Konsequenzen durch den toxischen Menschen oder ihr Umfeld verbunden, sich nicht als Opfer darzustellen und die toxische Gewalt zu verharmlosen.
Das Schönreden toxischer Gewalt nützt toxischen Menschen
Das Schönreden toxischer Gewalt aber hilft niemandem, außer den toxischen Menschen (und teilweise ihrem toxischen Fanclub). Denn mit dem Schönreden und Verharmlosen von Gewalt bleibt ihnen jede Menge Spielraum für ihre toxischen Methoden und damit für weitere Grenzüberschreitungen und Gewalt.
Aus diesem Grund, und um endlich den Opfern die Unterstützung zu bieten, die sie wirklich benötigen, ist es höchste Zeit, das gesamte Spektrum toxischer Gewalt und ihrer Folgen zu benennen, zu erforschen, zu verhindern und zu ahnden. Dafür müssten wir den Opfern endlich vorurteilsfrei zuhören, über die Gewalt reden, Aufklärung leisten bei Journalist:innen, Polizist:innen, Anwält:innen und Richter:innen, aber auch in Politik und Wirtschaft. Und es müssten erheblich mehr Gelder für die wissenschaftliche Forschung freigegeben werden.
Denn, wo steigende Zahlen von Opfern körperlicher Gewalt zu verzeichnen sind, sind mit absoluter Sicherheit auch steigende Zahlen von Opfern emotionaler und seelischer Gewalt zu verzeichnen. Von selbst hören toxische Menschen nicht auf, Gewalt zu verüben. Das wiederum hat Auswirkungen nicht nur auf die primär betroffenen Opfer, sondern auch sekundär auf unsere Gesellschaft, auf Politik und Wirtschaft, auf ein friedliches Miteinander und nicht zuletzt die Demokratie. Denn, so die Ergebnisse der Studie DEGS1 von 2013:
„Mehr als drei Viertel der Opfer von körperlicher Gewalt gaben an, dadurch in ihrem Befinden stark oder sehr stark beeinträchtigt zu sein, bei psychischer Gewalt waren dies ca. 60%.“
Das sind Zahlen, die erschrecken und die Frage aufwerfen, warum um Himmels willen sich in den vergangenen Jahren so wenig diesbezüglich zum Positiven verändert hat. Wer nun vor sich hin floskelt: „Gewalt hat es schon immer gegeben und wird es immer geben“, hat offenbar nicht verstanden, dass der Mensch, die selbsternannte „Krone der Schöpfung“, durchaus in der Lage ist, aus der Vergangenheit zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Die absolute Mehrheit der Bevölkerung, die Menschen mit Empathie, zeigen, wie es gehen kann. Die einzigen, die dies nicht können oder nicht wollen, weil sie sich bereits für perfekt und/oder unfehlbar halten, sind toxische Menschen. Es wird Zeit, ihnen das Handwerk zu legen. Und das beginnt damit, dass wir alle damit aufhören, toxische Gewalt schönzureden.