Emotionale Verwahrlosung durch die eigenen Eltern hat verheerende Folgen für Kinder. Wie extrem die sein können und wie sehr sie sie noch bis ins Erwachsenenalter verfolgen können, hat die 51-jährige Annette am eigenen Leib erlebt (und erlebt es noch). Dies ist ihre Geschichte.
Das Kuriose ist: Annette* ist Einzelkind – also eins jener Kinder, von denen wir allgemein annehmen, sie seien furchtbar verzogen und verwöhnt. Niemand glaubte, dass es Annette als Kind sehr schlecht ging. Denn sie war immer gut gekleidet, ging zur Schule, ihre Mutter bastelte mit ihr zusammen hübsche Karten – nach außen hin sah alles ganz normal aus.
Doch wie das bei toxischen Menschen so ist: Was nach außen normal aussieht, ist hinter verschlossenen Türen für die Betroffenen oft eine sehr einsame Hölle, in der sie den toxischen Menschen hilflos ausgeliefert sind. Dabei müssen es gar nicht immer Prügel sein, wie Annettes Beispiel zeigt.
Eine einsame Kindheit voller Vorwürfe
Als Kind kann man sich in der Regel nicht endlos mit ein und derselben Sache beschäftigen. Immer wieder mal hatte Annette keine Lust mehr darauf, mit ihrer Mutter hübsche Karten zu basteln, und wollte lieber spielen gehen. Daraufhin warf die Mutter dem Kind vor: Ich habe einen so großen Aufwand betrieben, damit wir hier zusammen basteln können, ich mache alles für dich, und jetzt magst du nicht mehr? Wer mit toxischen Eltern aufgewachsen ist, kennt diesen Vorwurf wahrscheinlich nur zu gut: Ich tue alles für dich (und nichts für mich selbst), und du bist so undankbar! Obwohl dieser Vorwurf ungefähr der Trotzphase eines Kleinkinds entspricht und pure Projektion
ist, fühlen sich die meisten Kinder dadurch automatisch schuldig für ihr völlig normales Verhalten.Als Annette einmal mitten in der Nacht aufwachte, war sie ungefähr vier oder fünf Jahre alt. Sie hatte Angst und suchte ihre Eltern. Doch sie musste feststellen, dass sie alleine zu Hause war. Sie legte sich neben den Stall der Kaninchen und fühlte sich dadurch nicht mehr vollständig alleingelassen. Ich hätte nicht gedacht, dass du aufwachst, sagte ihre Mutter hinterher. Sie und der Vater waren ausgegangen und hatten das Kind sich selbst überlassen.
Sie hat wenige Erinnerungen … und viele davon negativ
Kam Annette aus dem Kindergarten oder der Schule, schlug ihr in der Wohnung eine Mischung aus dem Stallgeruch der Kaninchen und blauem Dunst entgegen. Ihre Mutter saß rauchend vor dem Fernseher und kuschelte mit ihren Kaninchen. „In meiner Erinnerung war die Wohnung immer sauber, bis ich mit der Grundschule fertig war“, sagt Annette. „Aber danach war sie immer schmutzig und unaufgeräumt. Wenn es Mittagessen gab, war auf dem Küchentisch gerade genug Platz für den Teller. Alles andere war belegt mit Zeitungen und Zeitschriften.“ Ein gemeinsames Abendessen gab es bei ihnen nie. Wenn du Hunger hast, hieß es, dann bedien dich am Kühlschrank. Tat sie es, prüfte die Mutter genau, wie viel das Kind aß, und kommentierte oft: Jetzt isst du schon wieder etwas! oder Du wirst zu fett! Doch dem Mädchen war langweilig, es saß meistens vor dem Fernseher und aß, um die Zeit zu vertreiben.
Warum sich die Situation zu Hause damals so krass änderte, weiß Annette nicht mehr. Überhaupt ist es sehr schwer, mit ihr über ihre Kindheit zu sprechen. Denn ihr geht es wie sehr vielen Kindern toxischer Eltern: Sie hat nur wenige Erinnerungen daran. Während andere Menschen noch sehr detailliert aus ihrer Kindheit, von Unternehmungen, Ereignissen, Geburtstagen, Feiern und anderem erzählen können, haben Kinder toxischer Eltern oft große Erinnerungslücken. Die können manchmal mehrere Jahre umfassen, manchmal aber auch fast die komplette Kindheit und Jugend. Auch als Erwachsene werden sie oftmals mit Erinnerungslücken zu kämpfen haben, besonders, wenn sie in weitere toxische Beziehungen verwickelt wurden.
Sie erfuhr weder Interesse noch Zuwendung oder Liebe
Je älter Annette wurde, desto weniger Interesse hatte die Mutter an ihr. Auch das kennen viele Kinder toxischer Eltern: Sie sind niedlich, süß und vorzeigbar, solange sie noch keine nennenswerten Widerworte geben, bei jedem Lächeln der Eltern zurücklächeln und so schön ansteckend kichern. Fangen sie erst an, ihren eigenen Willen verbal zu äußern, werden sie uninteressant und/oder lästig. So saß Annette nach dem Kindergarten oder der Schule häufig mit der Mutter zusammen lediglich vor dem Fernseher.
Auch als Annette krank war, musste sie, obwohl sie es nicht wollte, fernsehen, denn die Mutter hatte keine Lust, sich mit ihr zu beschäftigen. Das Kind bekam nicht nur keine große Aufmerksamkeit von der Mutter, es bekam auch keine Zuwendung oder Liebe. „Wenn ich krank war, war es für mich ein Highlight, wenn sie mir mechanisch die Brust eingerieben hat“, sagt Annette. Das war das Höchstmaß an mütterlicher Zärtlichkeit, das sie je bekam. Neben den Kaninchen war wohl nichts mehr übrig für das eigene Kind.
Wo war denn der Vater, fragst du dich? Er war da, wo wahrscheinlich die meisten Väter in den 1970er, 80er Jahren waren (und auch heute oft noch sind): bei der Arbeit. Und danach beschäftigt mit seinen Hobbys Fußball und Musik. „Die waren ihm sehr wichtig“, weiß Annette noch. „Er trainierte eine Mannschaft und verbrachte dann den Sonntag auf dem Fußballplatz oder hatte am Samstagabend einen Auftritt mit einer Band.“ War er überhaupt einmal zu Hause, dann durfte Annette ihn nicht stören, weil er Zeitung las oder Musik oder Nachrichten hörte. Ab dem Mittag trank er. Der Alkohol machte ihn zwar nicht gewalttätig, doch er brachte ihn dazu, sich noch weiter zurückzuziehen. Und Annette noch mehr alleine zu lassen. Nur, wenn Annette in seiner Gegenwart ein Missgeschick passierte, wenn ihr beispielsweise etwas aus der Hand fiel, dann hat er sie angeschrien: Was soll das?!, als hätte sie es absichtlich getan.
Sie wurde abgewertet, kontrolliert und mit Schweigen bestraft
Annette lernte in ihrer Kindheit, dass sie ein böser und dummer Mensch sei, weil ihr Missgeschicke passierten, weil sie der Mutter viel zu viele neugierige Fragen stellte, weil sie ihrer Mutter mal vors Schienbein getreten hatte, was ihr ihr Onkel bis heute vorwirft. Und sie lernte, dass sie als Mensch mit all ihren Erlebnissen, Erfahrungen, Gedanken und Gefühlen uninteressant ist. Interesse zeigte ihre Mutter nur, wenn es etwas gab, worauf sie vielleicht hätte reagieren müssen, oder wenn sie einen Kontrollverlust befürchtete. Als Teenagerin musste Annette, wenn sie abends ausging, sich mehrmals am Abend eine Telefonzelle suchen, um der Mutter zu sagen, wo sie gerade war. Und sie musste, komme, was wolle, um 22 Uhr zu Hause sein. Einmal, erinnert sie sich, war sie um zwei Minuten nach zehn zurück. Ihre Mutter saß vor dem Fernseher und wurde sehr wütend. Denn, wenn sie zehn Uhr sage, dann hieße das zehn Uhr, nicht zehn Uhr zwei! Nach dem Donnerwetter schwieg die Mutter sie den Rest des Abends an, wie oft nach angeblichen Verfehlungen. Erst am nächsten Tag sprach sie wieder mit ihrer Tochter, als sei nichts gewesen.
Viele toxische Eltern kontrollieren ihre Kinder bis ins intimste Detail. Sie behalten die Uhr genau im Auge, sie schreiben ihnen vor, was sie sich von der Verwandtschaft zu Weihnachten wünschen dürfen, sie betreten das Zimmer ihres Kindes ohne dessen Zustimmung, und sie halten auch sonst rein gar nichts von deren Privatsphäre. Entdecken sie auch nur die kleinste Verfehlung, dann werden die Kinder bestraft, so wie Annette mit dem Schweigen. Gerade dieses Schweigen – auch wenn die Kinder es als Strafe von Geburt an gewöhnt sind – ist eine der schlimmsten Strafen überhaupt. Denn schon kleinste Kinder verlieren damit jede Form der Sicherheit durch ausgerechnet jene Personen, die ihnen diese Sicherheiten in der Kindheit dauerhaft geben müssten. Diese erlernte tiefgreifende Unsicherheit wird viele dieser Kinder ihr Leben lang hartnäckig begleiten, auch Annette.
Sie lernte, den Fehler immer bei sich zu suchen
Immer wieder demütigte die Mutter ihr Kind. Sie erzählte Geheimnisse weiter, die es ihr anvertraut hatte. Und häufig sagte sie zu dem Kind: Als ich so alt war wie du, da konnte ich das längst! Es machte angeblich dauernd etwas falsch. Umso mehr strampelte das Mädchen sich ab, um der Mutter alles recht zu machen. In einigen wenigen Fällen schaffte es das auch. Als Annette z. B. elf Jahre alt war und die Mutter einen Tag lang das Bett hüten musste, wärmte Annette sich selbst das Mittagessen auf. „Sie ist geplatzt vor Stolz, dass ich das mit elf Jahren schon konnte“, sagt Annette, „aber ich dachte mir nur: Was ist schon dabei? Ich hab’s doch nur aufgewärmt!“ Ihre eigene Leistung anzuerkennen und zu schätzen hat sie von diesen Eltern nie gelernt.
Ein beliebter Zeitvertreib der Mutter war es, Annette auf die Palme zu bringen. Sie stichelte, sie behauptete Unwahrheiten, sie lachte das Mädchen aus, und wenn es deshalb wütend wurde, drehte die Mutter den Spieß um. Sie wurde wütend, aber auf leise, verletzende Art, sie schwieg mal wieder oder sie verlangte eine Entschuldigung von dem Kind. Und sie gaslightete es: Wenn Annette der Mutter etwas vorhielt, was diese gesagt hatte, behauptete die: Das habe ich nie so gesagt! Annette wusste immer, dass das gelogen war. Doch sie lernte, dass sie tun konnte, was sie wollte: Nichts war gut genug, ständig machte sie etwas falsch, nichts half gegen die Bösartigkeiten – also musste der Fehler ja bei ihr selbst liegen, oder? Natürlich lag es nie an ihr, doch dieser Glaube saß sehr tief. Kinder toxischer Eltern sind schon sehr früh sehr erschöpft. Es kostet unwahrscheinlich viel Kraft, dieses Verhalten zu ertragen und das eigene aufblühende Ich genauso zu unterdrücken wie den Urinstinkt, der ihnen immer sagt, dass da etwas mit dem Elternteil nicht stimmt. Es ist unglaublich schwer, diesen Instinkt zum Schweigen zu bringen, nur weil das Elternteil ihnen vorschreibt, was sie zu denken, wie sie etwas einzuschätzen, was sie zu tun und zu sagen hatten und wie es zu passieren hatte.
Eine Selbstentfaltung war verboten
Die Mutter ließ ihrer Tochter auch keinen Freiraum, um sich selbst zu entfalten. „Das durfte ich nicht“, sagt Annette. „Sie schrieb mir vor, was ich zu tun hatte, und ich musste immer nett und brav sein. Sie sagte immer, sie habe Angst, dass mir etwas passieren könne.“ Wie hätte das denn auch nach außen ausgesehen! Dass Annette ihre Freund:innen gar nicht nach Hause einlud, weil die Wohnung so dreckig und unaufgeräumt war, war der Mutter dagegen gleichgültig. Nur manchmal kam ein Kind Annette besuchen, aber die räumte die Wohnung davor erst einmal auf und putzte, um sich nicht so sehr schämen zu müssen.
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Annette wünschte sich oft, dass ihre Mutter in ein Krankenhaus kommen und gesund wieder herauskommen würde, denn sie wusste instinktiv, dass der Fehler bei der Mutter lag. Doch sie konnte ihn nie einordnen. Ihr Vater, den sie wiederholt bat, sich doch scheiden zu lassen, hatte immer irgendwelche Ausflüchte. Die Mutter wäre doch dann ganz allein und hilflos. Er habe ja „bis dass der Tod uns scheidet“ geschworen. Oder er wolle nicht das Feld räumen und der Mutter das Haus einfach überlassen. „Ich glaube“, sagt Annette, „dass es für ihn vielleicht auch einfach nur praktisch und bequem war. So musste er sich nicht selbst etwas kochen.“ Und er war ja ohnehin kaum zu Hause. „Ich habe aber auch das Gefühl“, sagt sie, „dass meine Mutter ihn so sehr abgewertet hat, dass er wirklich dachte, er sei nicht fähig dazu, alleine zu leben.“
Niemand hat ihr geglaubt
Wenn sie zu Weihnachten bei Verwandten um den Tannenbaum herum saß, bekamen alle anderen Geschenke, sie nicht. Nur von ihrer Großmutter bekam auch sie einen Pyjama. Niemand merkte, wie traurig dieses Kind war, niemand fragte es, wie es ihm geht, und es fühlte sich auch in der erweiterten Familie unsichtbar. Immer wieder einmal versuchte Annette, sich anderen anzuvertrauen. Sie hatte die Hoffnung, dass dadurch irgendetwas besser werden könnte. Doch ihre Hoffnung wurde immer wieder enttäuscht. „Das Schreckliche war: Niemand hat mir geglaubt“, sagt sie. Nicht einmal ihr Onkel, der Psychotherapeut ist. Ihrer Stimme ist noch immer die Verzweiflung darüber anzuhören.
Als Annette die weiterführende Schule mit einer Zwei abschloss, bekam sie von den Eltern 200 DM. Hätte sie eine 1,9 oder eine noch bessere Note gehabt, hätte sie das Dreifache bekommen. Aber so war es insbesondere für die Mutter nur eine weitere Enttäuschung. Auch die ursprüngliche Berufswahl ihrer Tochter muss für sie eine solche Enttäuschung gewesen sein, denn Annette wollte Kinderkrankenpflegerin werden. Also sagte sie abwertend zur Tochter: So etwas kannst du doch gar nicht. Werd lieber Hotelfachfrau so wie ich. Und Annette hatte noch nicht die Durchsetzungskraft, um tatsächlich ihren eigenen Wunschberuf zu ergreifen.
Es dauerte Jahrzehnte, bis sie zu verstehen begann
Nicht verwunderlich, dass sie nach dem erfolgreichen Ende ihrer Lehre erst einmal weit weg wollte. Frankreich war ihr Ziel, doch die Mutter hatte etwas dagegen. Das könne sie doch überhaupt nicht, sie wüsste doch gar nicht, was sie dafür bräuchte und wie sie das herausfinden könnte. Diesmal aber setzte Annette sich durch und fuhr, auch wenn die Mutter weiterhin versuchte, sie mit emotionaler Erpressung zum Bleiben zu bewegen.
Bei vielen Kindern toxischer Eltern dauert es nach dem Auszug aus dem Elternhaus noch viele Jahre oder sogar Jahrzehnte, bis sie zu verstehen beginnen, was in ihrer Kindheit und Jugend wirklich mit ihnen passiert ist. Auch Annette ahnt jetzt erst mit 51 Jahren, dass und wie viel Vernachlässigung und Gewalt sie erfahren hat und was ihr dadurch in ihrem Leben verwehrt blieb.
„Es ging mir ja nicht schlecht“, sagt Annette. Sie hatte zu essen, sie hatte Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Doch dass das alleine nicht automatisch reicht, um ein glücklicher erwachsener Mensch zu werden, hat sie selbst erlebt. Nur kannte sie es damals nicht anders. Und die Folgen, die die emotionale Verwahrlosung durch ihre Eltern und die psychische Gewalt hatten, ergeben eine sehr lange Liste.
Sie weiß bis heute nicht, wer sie wirklich ist
„Ich weiß bis heute nicht, wer ich eigentlich bin“, sagt Annette. Es wird ihr zwar langsam bewusst, doch es ist ein sehr langwieriger Prozess, auch mit Hilfe einer psychologischen Begleitung. „Ich bin ein ängstlicher Mensch. Wenn etwas nicht nach Plan läuft, werde ich ganz unsicher. Daher befolge ich auch Anweisungen, meistens ohne sie zu hinterfragen. Denn ich denke immer, ich kann gar nichts, und die anderen wissen es sicher besser. Außerdem fühle ich mich unsichtbar und wie ein schlechter Mensch. Ich bin eine emotionale Esserin, das heißt, wenn es mir nicht gut geht, esse ich viel. Und ich fühle mich oft als Belastung für andere.“ Deshalb hilft sie anderen, auch wenn sie selbst fast keine Kraft mehr hat. Sie möchte einfach niemanden so im Stich lassen, wie sie im Stich gelassen wurde.
Sie hört Menschen sehr genau zu und weiß noch viele Jahre später, wer was gesagt hat. Und sie wählt bis heute ihre Worte sehr sorgfältig und glaubt immer, sich vorauseilend rechtfertigen und entschuldigen zu müssen. Sie strampelt sich weiterhin ab, um es auch ja allen recht zu machen, damit die gar nicht erst schimpfen können. Obwohl sie möglichst alles selbst macht, fühlt sie sich dennoch von anderen abhängig, was ihr gar nicht behagt. Wenn andere über sie lachen, verletzt sie das bis heute zutiefst, auch wenn sie nicht immer sicher ist, ob die anderen es verletzend meinen. Sie macht bis heute Dinge, die sie eigentlich gar nicht tun will, wenn andere sie unter emotionalen Druck setzen und sie deren Zuneigung nicht verlieren will. Nähe zu ertragen fällt ihr auch heute noch schwer. Und im Rückblick erkennt sie, dass viele ihrer Partner und Freund:innen ähnlich toxisch waren wie ihre Eltern.
Ihre toxische Kindheit wirkt sich bis heute auf ihre Gesundheit aus
Hallt eine toxische Kindheit und Jugend bis ins Erwachsenenalter nach, fordert das auch gesundheitlich seinen Tribut. Vor einigen Jahren hatte Annette zwei Burnouts und fühlt sich bis heute häufig sehr müde. Ohne Mittagsschlaf kommt sie manchmal nicht durch den Tag. Vor Jahren hatte sie noch einmal eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht, was ihre Mutter schlicht ignoriert hat (es war ja auch wieder nicht das Hotelfach). Danach hat sie einige Jahre lang mit benachteiligten Kindern gearbeitet, wenn auch nicht als Krankenpflegerin. „Diese Arbeit hat mich sehr ausgelaugt“, sagt sie. „Sie haben meine Liebe aufgesaugt, aber ich war wirklich gerne für sie da. Zu einigen habe ich immer noch Kontakt, und wenn ich sie treffe, umarmen sie mich immer. Es ist so ein ehrliches Miteinander, da ist nichts Falsches dahinter.“ Sie vermisst diese Arbeit mit den Kindern, doch ihre Kräfte reichen nicht dafür. Heute arbeitet sie in einem Café, in dem alles stimmt: Ihre Arbeit wird geschätzt, sie hat dort gute Freundschaften geknüpft, und die Kolleg:innen stehen ihr bei, wenn es ihr mal nicht so gut geht.
Und sie hat ein Refugium in einer kirchlichen Gemeinschaft gefunden. Bei diesen Menschen wurde sie vorbehaltlos aufgenommen und hat auch dort enge, verlässliche Freundschaften knüpfen können. Sie haben ihr überhaupt erst die Augen dafür geöffnet, dass sie eine toxische Kindheit hatte.„Wenn ich irgendetwas brauche“, sagt Annette, „sind sie immer sofort zur Stelle. Und im Gegensatz zu bisher kann ich diese Hilfe auch annehmen.“ Ein kleiner Fortschritt also, auch wenn sie immer noch Panikattacken bekommt, wenn etwas nicht ganz rund läuft. Aber diese Menschen stehen ihr zur Seite und stützen sie, bis die Attacke vorbei ist. Und was Annette besonders an ihnen schätzt: „Sie nehmen mich einfach an, wie ich bin. Und ich empfange viel Liebe von ihnen.“ Jetzt würde sie ganz gerne noch Salsatanzen lernen, doch dafür fehlt ihr bislang die Energie.
Sie lernt langsam, Grenzen zu setzen
Manchmal hat sich Annette in den letzten Jahren dabei ertappt, nur in Gedanken Rachepläne zu schmieden, damit es der Mutter auch mal so richtig schlecht ging. Doch, sagt sie, der Hass sei mit der Zeit immer weniger geworden. Annettes Vater ist vor einigen Jahren gestorben, und sie überlegt, den Kontakt zu ihrer Mutter nun abzubrechen. Es heißt zwar immer wieder, dass toxische Menschen mit zunehmendem Alter milder würden, doch davon ist bei ihrer Mutter nichts zu merken. Sie versucht immer noch, ihre Tochter zu manipulieren, beschimpft und demütigt sie, überschüttet sie mit Vorwürfen, und egal, was Annette tut, es ist nicht richtig. Die Mutter ist mittlerweile pflegebedürftig, weigert sich jedoch, Hilfe anzunehmen. Egal, was Annette ihr dazu vorschlägt, sie lehnt es ab. Sie drohte ihr zuletzt sogar, Annette sei nicht mehr ihre Tochter, wenn sie noch mehr in dieser Richtung unternähme. Daraufhin hat Annette nach langer Überlegung die Verantwortung für ihre Mutter abgegeben und ihr endlich eine Grenze gesetzt. Es ist eine der ersten neuen Grenzen, die sie für sich erkannt hat und nun versucht, konsequent durchzusetzen. Doch das ist nicht leicht: „Auch wenn ich längst erwachsen bin und auf meinen eigenen Füßen stehe, habe ich innerlich gezittert.“
Und vielleicht wird sie auch bei den nächsten Grenzen noch verunsichert sein, Panik bekommen oder sich selbst für einen schlechten Menschen halten. Doch mit der Unterstützung ihrer Freund:innen im Job und in der Kirche traut sie sich zu, diese Schritte – einen nach dem anderen – zu gehen. Denn sie hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, am Ende doch noch ein wirklich glückliches, zufriedenes und freies Leben zu leben. Und eines Tages Salsa tanzen zu können.
Annettes Tipps für Menschen mit toxischen Eltern und in toxischen Beziehungen:
- Arbeite deine Kindheit und dein Leben auf. Denn ich bin mir ganz sicher, dass du nur dann ein besseres, erfüllteres Leben wirst führen können.
- Hole dir Hilfe und gehe so schnell wie möglich. Habe kein schlechtes Gewissen, den toxischen Menschen zu verlassen, denn es ist o. k. zu gehen.
- Suche dir psychotherapeutische Hilfe, denn sonst kommst du nur sehr schwer von dem toxischen Menschen los.
- Suche sofort das Weite, sobald du bemerkst, dass du es mit toxischen Menschen zu tun hast.
- Umgib dich mit Menschen und Freund:innen, die gut zu dir sind.
- Sage dir immer wieder: Du bist gut so, wie du bist. Denn das bist du.
- Lerne, deine Grenzen zu erkennen und sie dann auch zu setzen.
- Lerne, nein zu sagen.
- Auch wenn die Heilung ein langer Prozess ist, halte durch.
* Alle Namen und wiedererkennbaren Details von Annettes Geschichte wurden von der Redaktion aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und zu Annettes Sicherheit verändert.