Sie erleben so viel Grausamkeit – warum nur lassen sich die Opfer von toxischen Menschen so schlecht behandeln? Eine Standardantwort darauf ist: „Keine Ahnung. Vielleicht sind sie einfach nur dumm.“ Dumm ist allerdings nur diese Antwort. Aber welche (sehr guten) Gründe gibt es dafür, dass Opfer die ganze toxische Sch*** aushalten?
Opfer toxischer Menschen sind weder dumm, noch naiv, wie du im Artikel „Wer wird eigentlich Opfer von toxischen Menschen“ nachlesen kannst. Sie kommen aus allen sozialen und Bildungsschichten unserer Gesellschaft, sie kommen aus allen Kulturen, und sie hatten teils sehr glückliche und teils sehr unglückliche Kindheiten. Was sie aber alle eint, ist, dass sie empathisch sind – und daran docken toxische Menschen mit schlafwandlerischer Sicherheit an und beginnen sofort damit, Gewalt gegen sie auszuüben. Dass die Opfer sich dann nicht so schnell wieder lösen können, hat zahlreiche Gründe. Und für einige dieser Gründe sind wir alle mitverantwortlich.
Aus welchen Gründen lassen sich Opfer von toxischen Menschen so schlecht behandeln?
Wer es länger mit einem toxischen Menschen zu tun hat, wird bald Meister:in in einer ganz bestimmten Überlebensstrategie sein: sich an jede noch so beschissene Situation mit diesem toxischen Menschen anzupassen. Denn anders wäre das tägliche Überleben mit einem solchen Menschen im direkten Umfeld meist gar nicht möglich. Wer sich immerzu wehrt, wer gegen den ganzen Mindfuck und die häusliche Gewalt aufbegehrt, wer es wagt, sich dem toxischen Menschen immer wieder in den Weg zu stellen und auf sein Recht zu pochen, wird bestraft. Und diese Strafen sind meist so perfide und gewalttätig ausgelegt, dass jene Opfer, die noch einen Funken Selbsterhaltungstrieb übrig haben, nicht so schnell wieder aufmucken, sondern sich anpassen und gehorchen.
Welche Gründe gibt es noch? Hier eine Auswahl:
Sie wollen dem toxischen Menschen helfen
Toxische Menschen jammern ausführlich darüber, wie arm dran sie angeblich seien. Dass niemand sie wirklich verstünde, niemand ihnen zur Seite stünde, wenn sie es am meisten bräuchten, und dass sie sich nur auf sich selbst verlassen könnten. Nachdem sie ihr Opfer gelove-bombt oder anderweitig eingenordet haben, glaubt es, die (einzig) richtige Person dafür zu sein, diesem Menschen aus seiner misslichen Lage heraushelfen zu können. Dass der sich in seiner absolut nicht misslichen Lage allerdings pudelwohl fühlt, kann es aufgrund dessen überzeugenden Schauspiels oft noch lange Zeit nicht einmal ahnen. Und so interpretiert es natürlich jedes Fehlverhalten, jede Gewalt als einen Ausdruck seiner vermeintlichen Verzweiflung, und gibt sich immer mehr Mühe, eine Lösung zu finden (natürlich völlig umsonst, weil der toxische Mensch ja gar keine Lösung will). Viele Opfer reiben sich bis zur Selbstaufgabe für den anderen Menschen auf, der erfreut und belustigt dabei zuschaut, wie bald nichts mehr von ihnen übrig bleibt. Um sie dann genau dafür herabzuwürdigen, zu demütigen und zu bestrafen.
Sie haben Verständnis für die (angeblichen) Schwierigkeiten des toxischen Menschen
Es wird – insbesondere weiblichen – Opfern oft unterstellt, sie stünden auf „schlimme Jungs“, weil die so „aufregend“ seien. Abgesehen davon, dass das in der Pauschalisierung schlicht frauenfeindlicher Bullshit ist, wird genau dieses Narrativ sehr gerne von toxischen Menschen ausgenutzt. Denn sie erzählen mit Vorliebe, was für eine (angeblich) schwierige Kindheit sie hatten, wie anstrengend ihr Job (angeblich) sei, wie schwer sie die (angeblichen) finanziellen Sorgen (angeblich) niederdrückten, wie sehr sie unter der Scheidung oder Gewalt ihrer Eltern (angeblich) gelitten hätten, wie stark sie (angeblich) von ihrer Kultur geprägt seien usw.
Damit rechtfertigen sie ihr Verhalten, ihren Bindungsunwillen (bei gleichzeitiger Kontrollwut), ihre Gefühlskälte (bei gleichzeitiger Forderung nach Empathie und Warmherzigkeit ihnen gegenüber), ihre streng hierarchische, sie bevorzugende Rollenverteilung in der Beziehung (bei gleichzeitiger Betonung, wie absolut gleichberechtigt sie beide doch seien), ihre Gewalt (als angeblich „friedliebendste Menschen der Welt“), ihre Suizid- und Morddrohungen, Erpressungen und ihr ewiges Gejammer. Weil ihre Opfer in aller Regel sehr empathisch sind, fühlen sie mit und zeigen großes Verständnis für diese Märchen (die sie aber meist lange nicht als Märchen durchschauen können).
Sie wollen sich einen Traum erfüllen
Dieses Verständnis und den Wunsch, zu helfen, entwickeln Opfer insbesondere dann, wenn es um etwas Wichtiges geht. Ist dieser Mensch zum Beispiel ihre große Liebe oder eine enge Freundschaft, handelt es sich um ihren Traumjob, ihre Traumwohnung oder den Ort, an dem sie schon immer leben wollten, sind viele Opfer bereit, für die Erfüllung dieses großen Traums so manche Abstriche und Kompromisse zu machen. In einer solchen Situation gibt man einfach nicht so schnell auf.
Je größer die Gefühle, je mehr man schon vorab investiert hat, desto mehr kämpft man darum, dass es klappt und langfristig Bestand hat. Hat man noch dazu einen Vertrag abgeschlossen oder ein Versprechen gegeben (z. B. „bis dass der Tod uns scheidet“), dann ist das für die Opfer eine Richtlinie, von der sie nicht abweichen. Während toxischen Menschen Verträge und Versprechen völlig egal sind, weil für sie ohnehin nur zählt, was sie wollen, bedeuten sie Opfern so viel, dass sie sich eine lange Zeit sehr darum bemühen, ihre Verträge und Versprechen zu erfüllen. Selbst dann, wenn es ihnen schon lange schlecht damit geht (wobei sie dies aber oft nicht mit dem toxischen Verhalten des anderen Menschen in Verbindung bringen können).
Sie haben eine emotionale Bindung an den toxischen Menschen
Ganz häufig ist es natürlich auch eine emotionale Bindung an den toxischen Menschen, die ein Opfer an ihm festhalten lässt. Sie lieben diesen Menschen und sehnen sich in den schlechten Zeiten immer wieder nach den schönen Zeiten des Love-Bombings und der Einlösung der Versprechen aus dem Future-Faking . Dafür sorgt der toxische Mensch mit Hilfe intermittierender Verstärkung . Wenn du einen Menschen, einen Job, eine Wohnung oder einen Wohnort wirklich liebst, gibst du die Hoffnung auf Besserung der Beziehung zu dem toxischen Menschen natürlich sehr lange nicht auf.
Sie sind von dem toxischen Menschen abhängig
Toxische Menschen haben oft, außer ihrer oberflächlichen Show, charakterlich nicht allzu viel zu bieten. Sie wären also eigentlich völlig uninteressant für ihre potenziellen Opfer. Aus diesem Grund, und weil sie um jeden Preis die Kontrolle über ihre Opfer haben wollen, machen sie sie von sich abhängig. Diese Abhängigkeit ist oft vielschichtig. Sie kann bspw. familiär sein (z. B. durch gemeinsame Kinder) oder sexuell, aber auch finanziell, beruflich oder gesellschaftlich. Wir alle kennen genügend Geschichten von Abhängigen, um zu wissen, dass niemand mal eben so aus einer Abhängigkeit heraus kann – dabei ist es unerheblich, ob es um eine Alkohol-, Zigaretten- oder andere Drogensucht geht oder um weitere Formen von Abhängigkeit. Wer erst einmal abhängig ist, nimmt enorm viel Negatives (und Gewalt) in Kauf, um Nachschub zu erhalten, und verliert deshalb mit der Zeit den Blick dafür, welche Wege ihr oder ihm noch offenstehen.
Sie sind traumagebunden
Ein besonderer Fall von Abhängigkeit ist die Traumabindung, die durch Gewalt entsteht. Diese emotionale Abhängigkeit erstickt jeden Reflex des Opfers zu fliehen oder sich zu wehren schon im Ansatz. Stattdessen versucht es, sich möglichst unauffällig, hilfsbereit/zuarbeitend, zugeneigt/liebevoll und/oder unterwürfig zu verhalten, in der Hoffnung, dadurch weiterer Gewalt, Willkür und Wut zu entgehen. Gleichzeitig entstehen bei dem Opfer scheinbar normale Gefühle für den toxischen Menschen, und es lässt nichts auf diesen Menschen kommen. Auch dann, wenn es durch ihn schlimmste Gewalt erlebt. Denn toxische Menschen manipulieren ihre Opfer derart, dass die sogar glauben, sie hätten diese Gewalt verdient.
Sie schämen sich
Scham ist eins der grausamsten Gefühle, mit denen toxische Menschen ihre Opfer klein halten und dazu bringen, alles auszuhalten, was sie ihnen antun. Ob es ein Kind ist, das sich seines toxischen Elternteils schämt und deshalb niemanden zu sich nach Hause einladen möchte, damit niemand über es lästern kann; oder eine Frau, die ihre fantastische Idee in einer Besprechung nicht äußern mag, aus vorauseilendem Schamgefühl vor der erwartbaren Reaktion toxischer Teilnehmender; oder der Mann, der sich aus Scham niemandem anvertrauen mag, weil in unserer Gesellschaft kaum jemand glauben würde, dass er als Mann von seiner Frau verprügelt wird; oder ein Vergewaltigungsopfer, das nicht Anzeige erstattet, weil es weiß, dass man es aufgrund seiner luftigen Kleiderwahl verhöhnen und mit- oder sogar allein schuldig machen wird. Toxische Menschen wissen sehr genau, wie sie die Scham ihrer Opfer zu ihrem Vorteil wecken müssen. Und die Opfer schämen sich (mit kräftiger Hilfe der Gesellschaft) häufig zu sehr, um über die erlebte Gewalt zu sprechen oder sich aus dieser gewaltvollen Beziehung zu lösen.
Sie haben Angst
Es gibt zahlreiche Ängste, die Opfer davon abbringen können, eine toxische Beziehung voller Gewalt zu verlassen: die Angst vor dem sozialen Abstieg, vor Obdachlosigkeit, finanziellen Verlusten, dem Verlust der gemeinsamen Kinder (oder dem, was der Verlust des anderen Elternteils mit den Kindern machen würde) oder des Freundeskreises, vor dem Alleinsein, der Abwesenheit des toxischen Menschen, dem Ende des Kontakts zu dem toxischen Menschen, vor der eigenen Courage, der falschen Entscheidung, dem Unbekannten, dem Ausmaß der Erkenntnis, die über eine:n hinabstürzen würde, und natürlich auch die Angst vor dem toxischen Menschen und der Gewalt, die einer Trennung folgen könnte. Diese Ängste können die Opfer vollständig lähmen – sie funktionieren nach außen hin zwar noch, und manche Menschen würden gar nicht glauben, dass sie aus Angst in einer gewaltvollen Beziehung feststecken. Innerlich aber sind sie völlig bewegungsunfähig. Mehr zu dieser Angst kannst du in dem Artikel „Was tun, wenn du mehr Angst vor dem Verlassen einer toxischen Beziehung als vor dem Bleiben hast?“ Teil 1 (frei) und Teil 2 (P) nachlesen.
Sie werden durch vermeintliche Expert:innen und die Gesellschaft gegaslightet
Hören wir Psycholog:innen oder Psychiater:innen sprechen, denken wir in der Regel sofort: Die müssen es wissen! Die haben das studiert, und die haben Berufserfahrung! Was wir nicht ahnen, ist, dass erschreckend viele Menschen dieser Fachrichtung oft genauso wenig Ahnung von toxischen Menschen haben wie eine Blindschleiche. Sie sind Expert:innen, aber viele von ihnen würden nicht einmal bemerken, selbst in einer toxischen Beziehung zu sein (so geht es selbst renommierten Narzissmus- oder Trauma-Expert:innen). Behaupten solche Fachleute dann wieder und wieder öffentlich, dass es toxische Menschen gar nicht gäbe oder wir „nur mal vernünftig mit ihnen kommunizieren“ müssten, damit sie mit ihrem gewalttätigen Verhalten aufhören würden, sind sie damit nicht nur perfekte Flying Monkeys . Ihre wilden Behauptungen sind für Opfer toxischer Menschen auch weit mehr als „nur“ ein gewaltiger Tritt in die Magengrube. Sie lernen daraus: Das, was ich wahrnehme und erlebe, gibt es gar nicht! Ich bilde mir das alles ein – es kann also gar nicht so schlimm sein! Es liegt an mir! Ich muss mich also noch mehr anstrengen, damit die Beziehung endlich besser wird! Und das ist, mit Verlaub, absolut bodenloser Bullshit, der dazu beiträgt, dass viele Opfer in toxischen Beziehungen verharren. Was für allzu viele von ihnen lebensgefährlich sein kann.
Sie folgen religiösen oder spirituellen Vorgaben
In vielen Religionen, Religionsauslegungen und spirituell geprägten Gruppen wird die Treue in einer Beziehung besonders groß geschrieben. Scheitert eine Beziehung, sollen sich beide immer fragen, was ihr Anteil daran war und woran sie bei sich selbst noch dringend arbeiten müssten, um das jeweilige Himmelreich oder seine Alternativen erreichen zu können. In einigen religiösen Gruppen und Sekten wird es geradezu verteufelt, wenn sich ein Mensch aus einer gewaltvollen Beziehung löst. Dieser Mensch wird häufig der Gruppe oder Sekte verwiesen, was mit großen Verlusten für diesen Menschen (Zuhause/Lebensumfeld, Familie/Kinder, Freundeskreis, emotionales und/oder spirituelles Zuhause, Finanzen usw.) einhergeht. Aber auch im Christentum sollen wir ja eigentlich die andere Wange hinhalten, wenn wir auf die eine Wange geschlagen werden. Besonders beliebt in New-Age- und esoterischen Gruppen und Sekten sind schädliche Übungen wie die Spiegelübung, bei der man Probleme, die man mit anderen hat, als eigene Probleme ansehen soll, um sie (angeblich) zu lösen (wurde bspw. eine Person von einem toxischen Menschen halbtot geprügelt und hat sie deshalb Angst vor ihm, soll sie durch diese Übung dazu gebracht werden, zu glauben, sie habe „in Wirklichkeit“ Angst vor sich selbst, und ähnlicher Unfug). Manche verlassen sich auf das, was ihnen Kartenleser:innen und Spökenkieker:innen „raten“, die damit viele Geschäfte machen, ohne je dabei ein wahres Wort von sich zu geben.
Sie unterliegen sozialem Druck (auch durch Flying Monkeys)
Unsere Gesellschaft tut bis heute enorm viel, um das vermeintliche Ideal einer Zweierbeziehung aufrechtzuerhalten. Es sind zwar nicht mehr die 1950er Jahre, aber politische und religiöse Strömungen versuchen alles, um uns dorthin oder noch ein Jahrzehnt weiter zurück zu katapultieren. Paare werden bei allem bevorzugt, steuerlich, beruflich, bei der Wohnungssuche, sogar bei der Urlaubsverteilung. Alleinstehende (mit oder ohne Kinder) dagegen werden in dieser Gesellschaft noch immer an den Rand geschoben. Sie sind ein Makel, der durch übergriffige Fragen, andere Grenzüberschreitungen und Benachteiligungen still gehalten werden soll. Wer sich aus einer Beziehung mit einem toxischen Menschen lösen will, muss damit rechnen, von einem (nach außen) normal erscheinenden und deshalb bevorzugten Leben ins Aus gekickt zu werden, insbesondere, aber längst nicht nur, in ländlichen, konservativen und solchen Gegenden, in denen sich die Rechtsextremen ausgebreitet haben.
Darüber hinaus hat sich (auch dank Social Media) eine Toxische Positivität ausgebreitet, die sich in hirn-, empathie- und respektlosen Blabla-Sprüchen von anderen wie „Du musst es nur wollen, dann ist alles möglich“ ausdrückt und Opfern vermittelt, die Probleme lägen an ihnen selbst, sie müssten zu dem toxischen Menschen stehen, nicht gleich bei der „kleinsten Unstimmigkeit“ gehen, nicht so „egoistisch“ sein, sondern mehr an sich und der Beziehung arbeiten usw.
Diesem sozialen Druck von allen Seiten zu widerstehen, ist für viele genauso schwer wie den Flying Monkeys
des toxischen Menschen zu widerstehen, die er schon bei dem geringsten Verdacht aussendet, dass sein Opfer auf dem Absprung sein könnte.Sie sind isoliert
Toxische Menschen trennen ihre Opfer häufig von ihrem vertrauten, unterstützenden und schützenden Umfeld. Sie treiben teilweise so große Keile zwischen ihre Opfer und deren Familien und Freundeskreise, dass sich manche dieser Beziehungen davon nie wieder vollständig erholen können. Ist das Umfeld aber erst einmal weggebrochen, avanciert der toxische Mensch ganz automatisch zum Ersatz als Vertraute:r, Ratgebende:r und Unterstützer:in, die:der das Opfer angeblich am besten von allen vor den schlechten äußeren Einflüssen schützen kann und dies vermeintlich nur zu dessen Bestem tut. In einen solchen Kokon eingeschlossen, fällt es vielen Opfern sehr schwer, auch nur ein winziges Loch für einen klaren Blick nach außen zu bohren.
Sie (werden) glauben (gemacht), selbst schuld zu sein (Täter-Opfer-Umkehr)
Sowohl gesellschaftlich, medial und juristisch als auch durch die toxischen Menschen wird den Opfern immer wieder eine Mitschuld oder sogar die gesamte Schuld für die Schwierigkeiten in der Beziehung gegeben. Diese Umkehr von Täter:innen und Opfern, auch Schuldumkehr genannt, kann für die Opfer so verwirrend sein, dass sie aus lauter Schuldgefühl bei den toxischen Menschen bleiben und alles versuchen, um besser zu werden und die Schwierigkeiten zu lösen. Das Schuldgefühl ist manchmal so groß, dass sie nicht gehen können, bevor nicht alles wesentlich besser geworden ist – was es aber nie wird, denn das ist ja nicht das Ziel der toxischen Menschen.
Ihr Selbstbewusstsein ist erodiert
Durch all diese Dinge und die ganze restliche Gewalt erodieren toxische Menschen das Selbstbewusstsein ihrer Opfer, bis es weitgehend zerstört ist. Da sie häufig auch von ihrem Umfeld isoliert wurden, ist bei vielen auch kein Mensch mehr anwesend, dem sie so weit vertrauen, dass er das zaghafte Glimmern ihres Selbstbewusstseins wieder anfachen könnte. Ohne ein gesundes Selbstbewusstsein und ohne unterstützendes Umfeld aber lassen sich Opfer dazu bringen, selbst in der gewalttätigsten Beziehung zu verharren, auch wenn die ihnen enorm schadet.
Sie unterliegen einer extrem rückständigen Rollenverteilung
In unserer Gesellschaft herrscht noch immer eine extrem rückständige Rollenverteilung vor. Viele halten es für „natürlich“ (eine Theorie, die insbesondere von Rechtsextremen stark gepusht wird) oder „gottgegeben“, dass Frauen die „Kümmernden“ sind und Männer die „Macher“. Andere behaupten, es sei „schon immer so gewesen“, weil schließlich die Männer die Jäger und die Frauen „nur“ die Sammlerinnen waren. Beides ist Unfug, denn zum einen wurde die angebliche „Natur“ noch nie bewiesen. Zum anderen ist es längst nachgewiesen, dass das „schon immer so gewesen“ lediglich die Interpretation der Funde durch jene Archäologen und Historiker war (und ist), die durch die Rollenverteilung des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt waren (s. z. B. den vermeintlichen großen „Krieger von Birka“, der sich 2017 bei einer DNS-Analyse als Kriegerin entpuppte).
Diese Rollenbilder setzen sich heute in einem unerträglichen Sexismus fort, der Frauen als die „natürlich“ Sorgenden, „Weichen“ darstellt, Männer als die „natürlich“ Schaffenden, „Harten“, und alle anderen Geschlechter sich in dieses bizarre binäre Muster einreihen müssen. Das führt dazu, dass insbesondere Frauen beigebracht oder mindestens suggeriert wird, jeden Scheiß hinzunehmen. Die Anwältin Christina Clemm sagt in einem sehr hörenswerten Podcast-Interview mit Carolin Emcke: „Wir [Frauen] bekommen beigebracht, dass wir uns schützen sollen vor dieser Gewalt, dass wir irgendwie selber schuld sind, wenn wir uns in Gefahr begeben haben, dass wir uns eben auf eine bestimmte Art und Weise im öffentlichen Raum zu bewegen haben, dass wir Vorkehrungen treffen müssen.“
Suchen Frauen dann Hilfe oder wehren sie sich, wird ihnen nicht geglaubt, weil sie Frauen sind, weil sie diese Vorgaben nicht erfüllt haben. Und weil der extrem frauenfeindliche Mythos der vermeintlich „hysterischen“ Frau, die dem Mann angeblich nur schaden oder sich angeblich selbst ins Rampenlicht rücken will, noch immer quicklebendig ist. Männer dagegen lernen von Kind an, dass schwach und Opfer zu sein, angeblich unmännlich sei. Sie (und die, die davon erfahren) können nicht glauben, dass ihnen solche Gewalt geschehen kann, weil sie doch Männer sind. Also schämen sie sich, darüber zu reden und Hilfe zu suchen, weil auch das angeblich unmännlich sei. Menschen, die anderen Geschlechts sind, sind ohnehin so viel Gegenwind, Häme und Gewalt ausgesetzt, dass sie sich oft erst recht nicht trauen, aufzubegehren, sich zu wehren oder Hilfe zu suchen, um eine gewaltvolle Beziehung verlassen zu können.
Sie unterliegen dem Gewaltkreislauf der Zwangskontrolle durch den toxischen Menschen
In einer Folge ihres Podcasts „Navigating Narcissism“ spricht die Psychologin und Therapeutin Dr. Ramani Durvasula davon, dass Opfern „Wahlmöglichkeiten und freier Wille durch die Zwangskontrolle [toxischer Menschen] genommen werden“. Unterliegen sie also dieser vielfältigen Form von Gewalt (im Englischen „Coercive Control“ genannt), haben sie aufgrund der umfassenden Einschränkung oder Auslöschung ihres freien Willens oder jeder Wahlmöglichkeit gar keinen anderen Ausweg, als in der gewaltvollen Beziehung mit dem toxischen Menschen zu verharren.
Warum also lassen sich Opfer von toxischen Menschen so schlecht behandeln?
Aus all den obigen Gründen und noch einigen mehr. Die Opfer toxischer Menschen sind mitnichten „selbst schuld“ – sie KÖNNEN häufig nicht gehen. Wir alle sollten also Fragen wie: „Warum bist du denn nicht früher gegangen?“ oder Aussagen wie: „Also, ICH wäre ja schon längst/bei der ersten Ohrfeige gegangen!“ endlich seinlassen. Denn sie sagen nur aus, dass wir selbst so ahnungslos wie Blindschleichen sind und, anstatt das zuzugeben, lieber in bester Täter-Opfer-Umkehr dem Opfer die Schuld in die Schuhe schieben. Damit machen wir uns zu Flying Monkeys aller toxischer Menschen. Und wir reduzieren die Möglichkeiten und Chancen der Opfer nur noch mehr, sich endlich aus den gewaltvollen Beziehungen zu befreien, sich ihr eigenes Leben wieder zurückzuholen und schließlich zu heilen.
Wenn du wissen möchtest, wie du Opfern toxischer Menschen wirklich helfen kannst, findest du Tipps dazu in dem Artikel „So kannst du einer von toxischer Gewalt betroffenen Person helfen“ (P).