Gesunder Narzissmus – gibt es den?

Gesunder Narzissmus – immer wieder lese ich diesen merkwürdigen Begriff. Er klingt wie ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. Jedesmal heißt es da, ein bisschen narzisstisch seien wir alle. Aber was genau bedeutet das? Und stimmt das wirklich? Ist eine solche Einordnung überhaupt sinnvoll? Wenn nicht, wem nützt sie?

Alle paar Wochen oder Monate gibt es wieder einen Artikel in einer Zeitung oder Zeitschrift, die groß titelt, dass „ein bisschen Narzissmus gesund“ sei. Dass wir aufhören sollten, Narzissmus zu „verteufeln“. Dass wir „alle ein wenig narzisstisch“ seien, und dass das etwas Gutes sei. Aber ist das wirklich so? Oder ist „gesunder Narzissmus“ tatsächlich ein Oxymoron?

Was ist Narzissmus?

Narzissmus ist zunächst einmal ein Persönlichkeitsstil. Der beschreibt, wie ein Mensch im Umgang mit anderen und in bestimmten Situation handelt und reagiert. Ein Mensch ist dann narzisstisch, wenn er u. a. die folgenden Merkmale erfüllt:

  • Anspruchshaltung,
  • Egoismus,
  • Macht-, Kontroll- und Dominanzwillen,
  • allgemein antisoziales Verhalten,
  • Ausübung von Zwangskontrolle Fragezeichen © Toxiversum
  • Wille zu Manipulationen, Übervorteilung, Täuschung, Betrug, Gaslighting Fragezeichen © Toxiversum und Lügen,
  • variabel eingesetzte, niedrige bis gar nicht vorhandene Fähigkeit zur emotionalen Empathie,
  • Arroganz,
  • Statusdenken,
  • starkes Bedürfnis nach Anerkennung und Bewunderung,
  • Oberflächlichkeit,
  • Überzeugung, immer im Recht zu sein/rechtzuhaben,
  • starkes Konkurrenzdenken,
  • überhöhter Neid auf andere und der Glaube, selbst von allen beneidet zu werden,
  • Rücksichtslosigkeit,
  • häufige Grenzüberschreitung,
  • Neigung zu Wut und aggressivem oder passiv-aggressivem Verhalten,
  • gezielt variable Selbstdarstellung,
  • gezielte Auswahl von primären Opfern und Flying Monkeys Fragezeichen © Toxiversum,
  • häufige Opferhaltung und Täter-Opfer-Umkehr Fragezeichen © Toxiversum.

Narzissmus existiert in allen sozialen, finanziellen, kulturellen, religiösen, politischen und Bildungsschichten unserer Gesellschaft. Und es hat den Anschein, als habe er seit der Corona-Pandemie extrem zugenommen. Oder die Betreffenden haben im Laufe der Pandemie einfach alle Hemmungen und jede Fassade des Anstands fallengelassen.

Was ist der Unterschied zwischen einem Persönlichkeitsstil und einer Persönlichkeitsstörung?

Du kennst diese oben beschriebenen Attribute vielleicht unter der Bezeichnung „narzisstische Persönlichkeitsstörung“. Eine Persönlichkeitsstörung ist dieses Verhalten aber erst in dem Moment, in dem sie von einer Fachkraft diagnostiziert wird, wenn ein Mensch z. B. in Therapie ist und dort von der Therapeutin die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ erhält. D. h. diese Fachdiagnose steht nur entsprechenden Expert:innen zu, die diesen Menschen persönlich untersucht haben bzw. denen alle Kriterien für eine solche Diagnose aus einer detaillierten Fallbeschreibung vorliegen.

Früher lautete eine solche Fachdiagnose bei Narzisst:innen „narzisstische Persönlichkeitsstörung“. Diese Diagnose wurde anhand der Kriterien in der von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgebrachten Klassifikation von Krankheiten gestellt. In der aktuellen 11. Fassung („International Classification of Diseases 11th Revision“ bzw. ICD-11) gibt es die Diagnose jedoch nicht mehr in dieser Form. Stattdessen soll ein erweiterter Katalog von Merkmalen (Qualifikationsmarkern) für eine Persönlichkeitsstörung überprüft werden, um dann die wichtigsten Verhaltensmerkmale gruppieren und beschreiben zu können. Dadurch erhofft man sich die Möglichkeit einer zielgenaueren therapeutischen Behandlung, die besser auf die erkannten Merkmale abgestimmt ist.

Antrieb war wohl auch die Hoffnung, dass die Stigmatisierung, die mit dem Begriff „narzisstisch“ einhergeht, durch eine aufgeweichtere Diagnose ohne konkrete Bezeichnung reduziert werden kann. Das mag aus Sicht von Narzisst:innen verständlich sein. Doch für die Opfer erschwert es die Sache nur noch mehr. Denn die mussten auch vorher schon sehr hart darum kämpfen, mit den Folgen der erlittenen Gewalt nicht nur zu leben. Sie mussten sich auch in der Gesellschaft und ggf. vor Gericht wenigstens die ideelle Anerkennung der Schäden und Verluste erkämpfen, um nicht völlig alleingelassen zu werden. Das wird ihnen nun durch eine weitgehend namenlose Diagnose, die ohnehin nur äußerst selten gestellt wird, nur noch mehr erschwert. Aber an die Opfer wird in dieser Hinsicht leider immer zuletzt gedacht.

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Wir können also, wenn wir keine Fachleute sind, keine Persönlichkeitsstörung diagnostizieren. Aber wir können einen Persönlichkeitsstil erkennen und benennen, wenn wir uns einen Menschen genauer anschauen. So, wie wir einen nervigen Menschen als „Nervensäge“ bezeichnen oder eine:n faulen Menschen als „Faulenzer:in“, so können wir einen Menschen mit den oben aufgelisteten Persönlichkeitsmerkmalen als „narzisstischen Menschen“ bezeichnen.

Manche sagen, ein Persönlichkeitsstil sei die mildere Form der Persönlichkeitsstörung. Doch das ist nicht automatisch der Fall. Denn es geht nur ein Bruchteil der toxischen Menschen jemals in eine Therapie oder Einrichtung, in der ihnen überhaupt eine Störung diagnostiziert werden könnte. Wir könnten ihnen also nur einen (milderen) Persönlichkeitsstil bescheinigen, selbst wenn ihr toxisches Verhalten aus Sicht der Opfer am extrem schädlichen Ende der Skala läge. Und was würde es dann bedeuten, wenn wir den Opfern sagen: Ach, das ist doch nur der mildere Persönlichkeitsstil? Genau: Das wäre Gaslighting Fragezeichen © Toxiversum. Und das sollten wir selbstverständlich tunlichst unterlassen.

Was soll dann gesunder Narzissmus sein?

„Gesunder Narzissmus“, so steht es in vielen Artikeln, sei ein harmloser Narzissmus, also einer, der keinen Schaden anrichtet. Als Merkmale des vermeintlich „gesunden Narzissmus“ wird z. B. ein gesundes Selbstbewusstsein angefügt, eine gesunde Eitelkeit, die es braucht, um sauber und adäquat gekleidet zur Arbeit zu erscheinen, oder auch ein gesunder Egoismus, der ein wichtiger Teil der alltäglichen Selbstfürsorge ist und niemandem schadet.

Das alles ist schlicht und einfach Teil normalen, gesunden Verhaltens. Ein Verhalten, das uns ein friedliches, kooperatives, faires und von Anstand, Respekt und Augenhöhe geprägtes Miteinander und Auskommen in unserer Gesellschaft ermöglicht. Nichts davon entspricht auch nur ansatzweise den Merkmalen eines narzisstischen Persönlichkeitsstils. Wenn du zweifelst, lies nochmal oben in der Liste der Merkmale nach – ist all das normales, gesundes Verhalten? Ganz sicher nicht.

Es ist zwar richtig, dass sich auch narzisstisches Verhalten (wie jedes toxische Verhalten) auf einer Skala von geringer bis extrem ausgeprägt bewegt. Doch hat ein narzisstischer Persönlichkeitsstil immer zur Folge, dass Menschen zu Schaden kommen. Denn selbst in der „milderen“ Form einer solchen Persönlichkeitsstörung sind Schäden möglich und sogar sehr wahrscheinlich.

Dabei kommen insbesondere die primären Opfer eines solchen Menschen zu Schaden. Während sich dieser Mensch nach außen ganz betont z. B. als friedliebender, fairer, hart arbeitender, humorvoller und liebevoller Mensch inszeniert, erleiden die primären Opfer hinter verschlossenen Türen häufig einen Alltag, der auch bei den milderen Formen die Hölle sein kann. Und selbst eine kleine Hölle ist immer noch eine Hölle.

Gibt es also überhaupt gesunden Narzissmus?

Nein.

Das, was in all diesen Artikeln über den vermeintlich „gesunden Narzissmus“ beschrieben wird, ist lediglich gesundes menschliches Verhalten und hat nicht das Geringste mit Narzissmus zu tun, wie er in der Klinischen Psychologie beschrieben wird.

Umso verwunderlicher ist es, dass dieses Märchen – wie so viele andere rund um das Thema toxische Menschen – bis heute endlos wiedergekäut wird. Es beweist jedoch vor allem eins: den nach wie vor völlig überzogenen Fokus auf dem fragilen Ego toxischer Menschen. Während gleichzeitig das enorme Leid übersehen oder kleingeredet wird, das sie überall und ihr ganzes Erwachsenenleben hindurch anrichten.

Wem nützt und wem schadet das Märchen vom vermeintlich „gesunden Narzissmus“?

Und so nützt dieses Märchen, dass wir doch „alle ein bisschen narzisstisch“ seien, vor allem einer Partei: narzisstischen Menschen. Die werden – auch dank der Informationen aus solchen Artikeln – weiterhin behaupten, ihre Opfer seien selbst „narzisstisch“. Sie werden dies immer weiter als Waffe benutzen können, um ihre Opfer zum Schweigen zu bringen. Denn die zweifeln nach so viel Gaslighting natürlich noch mehr an sich selbst als ohnehin schon, fühlen sich schuldig und schämen sich. Und sie halten sich deshalb noch stärker zurück mit ihren Anmerkungen, ihrer Kritik, ihren Verbesserungsvorschlägen, um nicht noch mehr seelische, emotionale und körperliche Gewalt erleben zu müssen.

Und damit weißt du auch, wem dieses Märchen vom vermeintlich gesunden Narzissmus schadet: den Opfern. Und was den Opfern schadet, das schadet grundsätzlich auch uns allen als Gesellschaft. Denn nimmt sich ein Opfer stark zurück, weil es toxische Gewalt erlebt, dann ist das ein Verlust für uns als Gesellschaft.

Toxische Menschen suchen sich schließlich immer sehr starke, kluge, erfolgreiche, empathische und warmherzige Menschen als Opfer aus … und die fehlen uns dann. Sie fehlen uns in allen Bereichen, in der Familie, im Freundeskreis, in der Kultur, am Arbeitsplatz, in der Wirtschaft allgemein und in der Politik. Gerade in einer Welt, die von toxischen Menschen ganz bewusst destabilisiert wird, können wir diese Verluste endgültig nicht mehr hinnehmen. Denn wenn wir in diesen unsicheren Zeiten etwas ganz besonders benötigen, dann sind es sehr starke, kluge, erfolgreiche, empathische und warmherzige Menschen, die nicht einen einzigen Funken Narzissmus in sich tragen.


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