Toxische Klischees tragen dazu bei, extrem schädliche Mythen über Jahre und Jahrzehnte lebendig zu halten. Was für Erwachsene schon schlimme Folgen hat, kann für Kinder zerstörerisch sein. Denn toxische Klischees haben für Kinder toxischer Eltern oft gravierende Folgen. Welche Klischees sind das und welche Folgen haben sie?
Ein Klischee ist laut Digitalem Wörterbuch der deutschen Sprache eine „pauschalisierte, nicht hinterfragte Vorstellung, formelhaft wiederkehrende (häufig Vorurteile bedienende) Annahme“. Klischees werden meist gedankenlos weitergegeben. Hat man sie einmal gelernt, tauchen sie immer wieder auf – so lange, bis man selbst und andere sie für Wahrheit halten. Das mag harmlos klingen, doch können diese Klischees sehr ernsthafte, negative Folgen haben und dadurch toxisch werden. Besonders dann, wenn es dabei um toxische Eltern und ihre Kinder geht.
Toxische Klischees über Eltern
Kindern toxischer Eltern wird oft übel, wenn sie diese Klischees wieder und wieder hören. Denn die haben mit ihrer Realität absolut gar nichts gemein. Für manche Kinder können sie höchst traumatische Folgen haben – manchmal sogar lebensgefährliche. Doch welche toxischen Klischees gibt es? Hier sind die vier wichtigsten und zugleich folgenreichsten:
1. Kein Elternteil will sein Kind je leiden sehen.
Normale Eltern tun alles, um Leid von ihrem Kind abzuwenden. Es ist schließlich eine ganz natürliche Aufgabe aller Eltern. Normale Eltern machen sich Sorgen, wenn ihr Kind leidet, und versuchen, ihm mit Zugewandtheit, Rat und Tat zur Seite zu stehen. Und sie tun alles dafür, um es vor Gefahren zu schützen.
Toxischen Eltern hingegen ist das Leid ihres Kindes oft reichlich egal. Nicht nur das, es ist ihnen auch lästig. Sie sind genervt, dass alle scheinbar erwarten, dass sie sich jetzt darum kümmern. Denn sie sehen das nicht als ihre Aufgabe. Sie finden, das muss das Kind schon alleine machen. Und sollte es das nicht können, muss es das halt lernen. Denn toxische Menschen empfinden in der Regel fast ausschließlich Mitgefühl für sich selbst. Dass ihr Kind leidet, juckt sie nicht groß. Sie machen ihm Vorschriften, was es zu tun hat, doch helfen die nicht, ist ihnen auch das egal. Denn die Vorschriften machen sie ihm, damit das Kind in ihrem Sinne funktioniert – nicht, damit das Kind glücklich ist oder lernt, mit Selbstbewusstsein und Selbstmitgefühl zu einem zufriedenen Menschen heranzuwachsen.
2. Die Liebe einer Mutter/eines Vaters zu ihren/seinen Kindern ist etwas ganz Natürliches.
Naturgegeben soll sie sein, die Mutterliebe oder Vaterliebe. So zumindest das toxische Klischee. Und auf normale Eltern trifft das auch meistens zu, selbst wenn diese Liebe bei manchen (z. B. aufgrund ihrer eigenen toxischen Eltern oder Lebensverhältnisse) unterentwickelt sein kann. Bei toxischen Eltern ist die Liebe zum Kind aber nicht naturgegeben.
Liebe geht immer einher mit dem Willen, das Rampenlicht auch mal zu räumen, die eigenen Ziele und Bedürfnisse hintanzustellen, das Kind und seine Bedürfnisse zu sehen, zu respektieren und es auf seinem ganz individuellen Weg liebevoll zu begleiten und zu unterstützen. Menschen, die über gar keine oder nur wenig Empathie verfügen (und diese oft ausschließlich für sich selbst empfinden), die sich selbst und ihre Bedürfnisse, Wünsche und Ziele über alles andere stellen, nehmen deshalb diese ganz grundlegende Aufgabe nicht mit der natürlichen elterlichen Liebe wahr. Stattdessen reagieren sie häufig mit Unmut, mit einem absoluten Minimum an Pflichtgefühl und oft nur deshalb, weil ihr eigener Ruf oder ihre Ziele sonst auf dem Spiel stünden.
3. Väter haben keinen so engen Bezug zu ihren Kindern wie Mütter.
In Deutschland herrscht bis heute vielfach das Klischee einer äußerst altbackenen Rollenverteilung: der Mutter als das gefühlvoll sorgende und des Vaters als das finanziell versorgende Elternteil. Daraus schließen viele, dass Väter keinen so engen Bezug zu ihren Kindern haben wie die Mütter.
Was für ein Unsinn das ist, zeigt nicht nur die enorm hohe Anzahl toxischer Mütter, deren vermeintlich enge Beziehung zu den Kindern lediglich eine erzwungene Transaktion ist (Ich bin dir nur dann wohlgesonnen, wenn du gehorchst/Leistung bringst). Das toxische Klischee wird auch widerlegt durch die unzähligen fürsorglichen Väter, die sich liebevoll, aufmerksam und mit ehrlichem Interesse um ihre Kinder kümmern.
4. Jeder Vater hat ein Recht auf Kontakt zu seinen Kindern.
Immer wieder beklagen Anwält:innen wie Asha Hedayati oder Christina Clemm, dass vor Gericht nach erschütternden Schilderungen von Gewalt durch einen Mann gegen seine Frau und die gemeinsamen Kinder eben diesem Mann ein Sorge- oder Umgangsrecht für die Kinder gewährt wird. Dass also das Recht eines Menschen, der gewalttätig ist, als vorrangig gegenüber dem Recht der Kinder auf emotionale, seelische und körperliche Unversehrtheit eingestuft wird.
Hier versagt der Staat also auf ganzer Linie. Die Leidtragenden sind nicht nur die Kinder, die dadurch einen manchmal kaum wiedergutzumachenden Schaden erleiden. Auch die Mütter sind Leidtragende, da sie die Kinder nach dem Kontakt mit dem Vater wieder auffangen, trösten, in die Balance bringen müssen. Die Bürde, die damit auf unschuldige Beteiligte abgewälzt wird, nur um einem einzigen gewalttätigen Menschen seinen Willen zu lassen, ist unwahrscheinlich groß. Dabei sollte im 21. Jahrhundert doch nun wirklich wer Gewalt gegen Frau und Kinder ausübt, das Recht auf Kontakt verwirkt haben. Schließlich sichert das Grundgesetz uns in Artikel 2.2 das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu. Die EU geht sogar noch weiter. In ihrer Charta der Grundrechte versichert sie in Artikel 3:
„Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit.“
Nur gilt das allzu häufig nicht, wenn es um die emotionale, seelische und körperliche Gewalt durch toxische Menschen geht.
Welche Folgen können diese toxischen Klischees haben?
Toxische Klischees haben die unangenehme Eigenschaft, wie Sekundenkleber zu haften. Kein Mittel hilft dagegen, keine Logik, keine Fakten. Sie kleben bombenfest. Ganz klar, dass es dann auch beinahe unmöglich ist, politische, juristische, wirtschaftliche oder gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in dieser Hinsicht voranzutreiben. Vielleicht meinst du, wir hätten uns schon längst darüber hinweggesetzt – doch das ist nicht der Fall. Denn sonst würden toxische Klischees wie die oben genannten keine extremen Folgen mehr für die jeweiligen Opfer toxischer Menschen haben. Doch welche Folgen können das sein?
>> Kein Elternteil will sein Kind je leiden sehen.
Dieses Klischee wirkt als Gedankenstopp. Es wird meist mit solcher Absolutheit vorgebracht, dass eine gegenteilige Antwort von vornherein ausgeschlossen ist. Das wiederum führt dazu, dass viele Menschen denken: Dieses Elternteil ist einfach nur sehr streng und schlägt mal über die Stränge. Aber es will sein Kind ja nicht leiden sehen. Also wird’s schon nicht so schlimm sein. Und sie halten sich in der Folge aus den Angelegenheiten dieser toxischen Familie heraus. Damit sind die Kinder der Willkür und Gewalt des toxischen Elternteils ausgeliefert, ohne dass irgendjemand mal genauer hinschaut. Traut sich ein Kind ausnahmsweise einmal, sich jemandem anzuvertrauen, werden seine Wahrheit, sein Erleben und seine Gefühle durch diesen Gedankenstopper viel zu oft verneint und das Kind so zum Schweigen verdammt. Das Verlassenheitsgefühl des Kindes kann sich dadurch ins Unendliche steigern und es noch Jahrzehnte später an einem freien, glücklichen Leben hindern.
>> Die Liebe einer Mutter/eines Vaters zu ihren/seinen Kindern ist etwas ganz Natürliches.
Auch dieses Klischee führt dazu, dass wir aus den Augen verlieren, dass die Kinder toxischer Eltern eben diese vermeintlich naturgegebene Liebe nicht bekommen. Die Gesellschaft glaubt, es gäbe diese Liebe, weil toxische Eltern diese Liebe nach außen hin häufig sehr überzeugend spielen und ihre Kinder dazu erzogen haben, dies nach außen hin auch zu bekräftigen.
In der Realität bedeutet das für die Kinder, dass sie lernen, dass Liebesäußerungen (wie freundliche Worte oder eine Umarmung) nur eine Transaktion sind. Diese gibt es nur, wenn sie lieb sind, wenn sie gehorchen und wenn sie gute Leistungen nach Hause bringen. Sie lernen, dass sie selbst schuld sind, wenn sie keine Liebe bekommen, denn Mutter- oder Vaterliebe ist ja angeblich ganz natürlich. Also muss es ja an ihnen selbst liegen. Die Scham und die Schuld, die Kindern damit von Geburt an eingeflüstert (oder eingebläut) wird, kann sie ihr ganzes Leben lang stark beeinträchtigen.
>> Väter haben keinen so engen Bezug zu ihren Kindern wie Mütter.
Mit diesem Klischee werden Mütter grundsätzlich in eine Ecke gedrängt, die ihnen vorrangig, weil angeblich naturgegeben, eine sorgende Rolle zuweist. Damit werden weitere uralte Klischees, deren Sockel längst bröckelt, jedesmal wieder frisch überzementiert. Und Mütter fühlen sich weiterhin unter Druck, ihre Karriere nachrangig zu behandeln und sich um die Kinder zu kümmern. Wogegen Väter leider keine Zeit haben, sich um die anstrengenden, schwierigen, unangenehmen Aufgaben rund um Kinder und Haushalt zu kümmern, da sie ja Karriere machen „müssen“.
Dieses toxische Klischee führt leider bis heute dazu, dass bei Sorgerechtsstreitigkeiten nach Trennungen heterosexueller Paare die Kinder fast automatisch der Mutter zugesprochen werden. Denn die Kinder brauchen ihre Mutter ja viel mehr als den Vater – angeblich. Sogar dann, wenn die Mutter gewalttätig ist. Nicht nur sind die Kinder dann dieser Gewalt ausgeliefert, ohne dass der Vater noch einschreiten kann. Sie verlieren womöglich sogar die Bindung zu diesem Vater. Denn toxische Mütter machen ihre Ex-Partner typischerweise schlecht vor den Kindern (umgekehrt ist es aber genauso – toxische Väter machen die Mütter ebenfalls schlecht). Sie torpedieren auch jede Kontaktaufnahme, unterminieren permanent das Verhältnis zum Vater und unzählige Kinder verlieren sogar vollständig den Kontakt zu dem Vater. Manche schaffen es erst im Erwachsenenalter oder sogar nie, diesen Kontakt je wieder zu knüpfen. Das schlägt bei unzähligen Kindern und Vätern sehr tiefe Wunden, die manchmal nie wirklich verheilen.
>> Jeder Vater hat ein Recht auf Kontakt zu seinen Kindern.
Wie es immer wieder in den Meldungen der oben bereits erwähnten Anwält:innen wie Hedayati, Clemm u. a. zu lesen ist, zwingen Gerichte tatsächlich immer noch Kinder gewalttätiger Väter zu einem regelmäßigen Kontakt. Die gesellschaftliche Bevorzugung der Männer auf Kosten der Frauen und Kinder kommt in solchen skandalösen Urteilen zu einem ihrer widerwärtigsten Höhepunkte.
Wer sich mit toxischen Menschen auskennt, weiß: Es ist so gut wie immer das Beste für das Opfer, den toxischen Menschen zu verlassen. Genauso ist es so gut wie immer das Beste für die Kinder toxischer Eltern, wenn sie ohne die Gewalt des toxischen Elternteils aufwachsen. Zwingen Gerichte diese Kinder dennoch dazu, diese Gewalt weiter auszuhalten – und sei es „nur“ jedes zweite Wochenende o. Ä. – bringen sie die Kinder in extrem schwierige Situationen, die man ihnen nicht unnötig zumuten sollte.
Denn die Kinder wollen keine Gewalt erfahren, verhalten sich also fügsam und unauffällig dem Vater gegenüber. Doch den bringt ihr Verhalten entweder in ständige Rage oder er will – in typischer Manier – die Kinder für sich vereinnahmen und gegen die Mutter ausspielen. Er wird also entweder die Kinder ködern, indem er viel Geld springen lässt, tolle Unternehmungen mit ihnen macht und den super-easy, super-entspannten Vater spielt. Damit zieht er die Kinder auf seine Seite, denn die Mutter ist diejenige, die im Alltag alle Streitigkeiten, alle Launen, alle Schwierigkeiten in KiTa und Schule abfedern muss, während sie gleichzeitig arbeiten geht, was enorm schwierig, kräfte- und nervenzehrend sein kann.
Väter versuchen oft, die Kinder dazu zu bringen, sich zwischen den Eltern zu entscheiden. Sie sind sich nicht zu schade, sie dazu zu nötigen, Lügen zu erzählen. Sie nutzen diese Aussagen dann recht häufig, um sie gegen die Mutter zu verwenden. Insbesondere, wenn sie aus Rache versuchen, vor Gericht das alleinige Sorgerecht oder mindestens stark erweiterten Umgang zu erstreiten. Die Kinder sitzen damit ständig zwischen allen Stühlen und sollten aber genau dies nicht müssen.
Noch schlimmer ist das Ganze, weil die Kinder bei einem toxischen Vater wieder der gesamten emotionalen, seelischen und körperlichen Gewalt durch diesen Menschen ausgesetzt sind. Und diesmal unbeaufsichtigt, denn selbst bei überwachten Besuchen sind die Kinder immer noch der emotionalen und seelischen Gewalt, den Lügen, Manipulationen und dem Gaslighting des Vaters ausgesetzt. Häufig kennen sich die betreffenden Jugendamtsmitarbeitenden nicht sehr gut mit diesen Formen der Gewalt aus. Die Mutter, die weiß, was vor sich geht, ist jedoch abwesend und kann nicht eingreifen. Ist das wirklich das, was wir Kindern zumuten sollten und wollen? Sollte wirklich ihr Recht auf Unversehrtheit weniger wichtig sein als das Recht des gewalttätigen Vaters auf Kontakt?
Was tun, wenn andere toxische Klischees von sich geben?
Das Fazit aus all dem ist, dass die Kinder toxischer Eltern so gut wie immer die Leidtragenden sind. Denn sie müssen das Ausmaß der Gewalt meist alleine tragen. Sie werden dabei von ihrem Umfeld und der ganzen Gesellschaft in der Regel alleine gelassen. Und die oft gravierenden Folgen dessen, die Auswirkungen auf ihre Gesundheit, ihre Lebenszufriedenheit und ihre Arbeitsfähigkeit sind noch gar nicht beziffert worden.
Wir sollten uns daher die EU-Charta der Menschenrechte immer vor Augen halten. Und wir sollten unbedingt genauer zuhören, wenn andere toxische Klischees von sich geben. Schon da sollten wir ihnen widersprechen und allen Beteiligten klarmachen, dass diese überkommenen toxischen Klischees alles sind, aber keineswegs harmlos. Und schon gar nicht wahr. Und dass solche Sprüche sehr reale, sehr negative Folgen haben können. Auch und gerade für die Kinder toxischer Eltern.
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