Die Heilung nach toxischer Gewalt erledigt sich meistens leider nicht von selbst, nachdem die toxische Beziehung beendet ist. Dennoch wird sie oft verharmlost oder gleich ganz übersehen. Aber warum dauert die Heilung so lange? Die Antwort liegt – unter anderem – in den Stadien, die viele Opfer durchlaufen müssen.
Toxische Gewalt ist die emotionale, seelische und körperliche Gewalt, die toxische Menschen gegen andere ausüben. Ihr Verhalten ist so gut wie immer toxisch. Denn die Folgen ihres Verhaltens sind für Betroffene dann wie Gift. Nur die Wenigsten sind dagegen resistent. Je nachdem, wie lange deine Beziehung zu dem toxischen Menschen dauerte und in welchem Ausmaß er dich durch seine Methoden verletzt hat, kann dies auch Einfluss auf deinen Heilungsprozess haben. Denn kein Heilungsprozess ist wie der andere. Ähnlich wie bspw. bei Schnittverletzungen können die Auswirkungen von einem oberflächlichen, schnell heilenden Kratzer bis zu lebensgefährlichen Wunden reichen, die langfristig professioneller Behandlung bedürfen.
Heilen von was eigentlich?
Toxische Gewalt scheint nach außen hin gar nicht schlimm zu sein. Stell dich doch nicht so an oder Übertreib mal nicht, der ist doch so nett oder Bist du sicher, dass du dir das nicht nur ausdenkst, um dich wichtig zu machen? sind Reaktionen, die sich Opfer toxischer Menschen häufig anhören müssen. Durch so etwas wird toxische Gewalt, insbesondere die, die hinter verschlossenen Türen geschieht und nicht sofort erkennbar ist, verharmlost und den Opfern der Weg zur Heilung erschwert. Denn in unserer Gesellschaft wird erwartet, dass man sofort wieder funktioniert. Klar, das Ende einer Beziehung, eines Traums/Traumjobs usw. ist nicht schön, aber alle anderen haben das auch schon erlebt und überlebt – heißt es oft. Da trauert man mal kurz, aber dann rafft man sich auf, richtet das Krönchen und schreitet weiter stolz durchs Leben – so zumindest das allzu lebendige Klischee. Wenn es doch so einfach wäre!
Doch das ist es ganz und gar nicht. Denn viele Opfer – insbesondere die, die eine sehr lange oder sogar lebenslange Beziehung zu einem toxischen Menschen hatten – leiden unter einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (k-PTBS). Wir denken häufig, eine PTBS könne nur Soldat:innen ereilen, die schlimme Gewalt während eines Kriegseinsatzes erlebt haben. Oder Menschen, die Opfer oder Zeug:innen einer körperlichen Gewalttat oder eines extrem belastenden Ereignisses (Explosion, Unfall usw.) geworden sind. Doch können auch Menschen, die eine toxische Beziehung erlebt haben, eine PTBS erleiden. Da diese aber nicht nur aufgrund eines einzelnen traumatischen Erlebnisses entsteht, sondern aus einer langen (teils lebenslangen) und sehr vielschichtigen Reihe traumatischer Erlebnisse aufgrund des toxischen Menschen, wird diese Form nicht mehr PTBS, sondern komplex, also k-PTBS genannt.
Die Symptome der k-PTBS können sehr vielschichtig sein und das Opfer so stark belasten, dass es zeitweise kaum oder gar nicht in der Lage ist, einen ganz normalen Alltag zu bestreiten. Die Gewalt toxischer Menschen kann einem Opfer derart zusetzen, dass es eine Reihe seelischer und körperlicher Symptome entwickelt, die es so sehr belasten können, dass es sich aus dem normalen Alltag seines Umfelds immer wieder oder sogar ganz zurückziehen muss. Doch die Folgen toxischer Gewalt müssen nicht immer schwere Depressionen sein, Süchte, Selbstverletzungen o. Ä. Sie können auch weitgehend unsichtbar und unbemerkt bleiben, aber das Opfer in seinem Leben dennoch stark beeinträchtigen. Einige solcher Folgen findest du in der folgenden Liste der Stadien der Heilung.
Die Stadien der Heilung nach toxischer Gewalt
Im Folgenden liste ich einige der Stadien der Heilung nach toxischer Gewalt auf, die viele Opfer durchlaufen müssen. Diese Liste ist nicht vollständig, und nicht alle Opfer müssen durch alle diese Stadien durch. Doch du kannst hierdurch einen Eindruck davon bekommen, warum die Heilung nach toxischer Gewalt so schwierig sein und so lange dauern kann.
• Die Gewalt erkennen
Der erste Schritt zur Heilung ist, überhaupt erst einmal genügend Informationen zu haben, um erkennen zu können, dass dieser Mensch dir Gewalt angetan hat, und zwar emotionale, seelische und körperliche Gewalt. Sie ist oft so subtil, dass du sie vielleicht gar nicht als solche wahrgenommen hast. Nicht einmal körperliche Gewalt wird oft als solche ernst genommen. Mit Sätzen wie „Es war doch nur eine Ohrfeige“ oder „Du hattest ja nicht einmal blaue Flecken“ wird sie oft verharmlost (natürlich insbesondere von toxischen Menschen und ihrem toxischen Fanclub ). Und manche Gewaltformen sind gesellschaftlich nicht einmal ansatzweise geächtet, sodass toxische Menschen sie nach Belieben ausüben können und selbst Opfer sie deshalb kleinreden.
• Das Ausmaß erkennen
Viele Opfer verstehen mit der Zeit, dass ihnen etwas angetan wurde. Doch zu erkennen, wie groß das Ausmaß ist und wie gravierend die Auswirkungen sind, kann ein schwieriger und manchmal sehr lang andauernder Prozess sein. Erst recht, wenn du ein toxisches Elternteil hattest und von Geburt an seinem Gift ausgesetzt warst.
• Die Lügen entlarven
Dieser Prozess beinhaltet, die ganzen Lügen zu erkennen, auf denen dein Leben oder deine Zeit mit diesem Menschen aufgebaut war. Das können alltägliche Lügen gewesen sein wie bspw., dass du etwas falsch gemacht hast (was aber völlig richtig war), dass du einen Termin vergessen hast (der aber nicht abgesprochen war oder den es gar nicht gab) – also typisches Gaslighting . Es kann aber auch die ganz große Lüge gewesen sein, das „ich liebe dich“, das womöglich nie der Fall war.
• Deine Beziehungsmuster erkennen
Teil des Heilungsprozesses ist es auch, die eigenen Beziehungsmuster zu erkennen. Denn viele Opfer toxischer Menschen befreien sich aus einer toxischen Beziehung, nur um gleich wieder auf einen toxischen Menschen hereinzufallen. Gerade diejenigen mit einem toxischen Elternteil wiederholen dieses Muster unbewusst so lange, bis sie erkennen können, worauf diese Entscheidungen für toxische Beziehungen tatsächlich beruhen: auf der Prägung durch vorherige toxische Gewalt.
• Dein typisches Reaktionsmuster erkennen
Es gibt vier typische Reaktionsmuster von Opfern toxischer Gewalt: Kampf, Flucht, Erstarrung und Unterwerfung. Jedes Opfer muss für sich herausfinden, welche dieser typischen Reaktionen es am meisten zeigt und welche Anteile der anderen Reaktionstypen es hat. Erst dadurch kann es besser verstehen, wie und warum es sich so angesichts der ganzen emotionalen, seelischen und ggf. auch körperlichern Gewalt verhalten hat.
• Radikale Akzeptanz lernen
Radikale Akzeptanz zu lernen ist eine wichtige Voraussetzung für einen positiven Heilungsverlauf. Denn es wird sehr schwer zu heilen, wenn du noch eine Menge Energie auf das sinnlose Vorhaben verschwendest, den toxischen Menschen ändern zu wollen, oder auf die Hoffnung, dass er sich dir zuliebe ändern wird. Radikale Akzeptanz ist ein Loslassen, doch dies fällt gerade Opfern toxischer Menschen oft sehr schwer, auch, aber nicht nur aufgrund der starken Traumabindung . Es ist – wie die meisten Stadien der Heilung nach toxischer Gewalt – ein Prozess, der seine Zeit braucht.
• Die Flashbacks erkennen
Flashbacks sind Momente, in denen du die vormals erlebte Gewalt erneut zu erleben scheinst, ohne, dass es dir wirklich bewusst ist. Irgendetwas triggert dich und du zeigst die gleichen Reaktionen darauf, die du vormals in den gewalttätigen Situationen durch den toxischen Menschen gezeigt hast. Du zeigst sie auch dann, wenn die jetzige Situation nicht ansatzweise gefährlich ist. Sie muss dich nur auf irgendeine Weise daran erinnern, und schon zeigst du eine Reaktion, die anderen (und dir selbst vielleicht auch) unpassend oder übertrieben erscheint (zusammenzucken, dich ducken, weinen, weglaufen, dich zurückziehen, dicht machen, wütend werden, schreien o. a.). Diese Reaktionen wieder und wieder als Folge der einstigen toxischen Gewalt zu erkennen, ist auch ein wichtiger Baustein des Heilungsprozesses.
• Den inneren und äußeren Kritiker erkennen lernen
Den inneren Kritiker kennen die meisten Opfer toxischer Menschen sehr gut: Sie haben deren Kritik oft schon so sehr verinnerlicht, dass sie sich selbst beständig für all das kritisieren, das der toxische Mensch an ihnen immer kritisiert hat. Das können äußerliche Dinge sein (z. B. dein Gewicht, deine Frisur, deine Kleiderwahl), aber auch dein Verhalten, deine Worte oder deine Entscheidungen.
Der äußere Kritiker ist dagegen weniger bekannt als Folge toxischer Gewalt. Er zeigt sich u. a. an einer auffällig häufigen Kritik anderen Menschen gegenüber. Diese können kaum etwas richtig machen, sie enttäuschen schnell nach einem positiven Auftakt, und kleine Fehler erscheinen dann plötzlich übermächtig.
Beide Muster erkennen zu lernen, ist oft nicht leicht, insbesondere, wenn du mit einem toxischen Elternteil aufgewachsen bist. Denn sie erscheinen dir (und anderen) wie ein (wenig angenehmer) Teil deines Charakters. Doch die Erkenntnis ist ein wichtiger Schritt zur Heilung und zu einem zufriedeneren Leben.
• Die Abwehrmechanismen erkennen lernen
Aufgrund der Erfahrungen, die sie mit toxischen Menschen machen, kann es sein, dass viele Opfer eine unbewusste Abwehrreaktion gegenüber vielen Dingen zeigen: gegenüber Menschen, die gut für sie wären, aber von dem toxischen Menschen nicht akzeptiert werden oder würden, gegenüber Lebens-/Wohn- und Kleinungsstilen oder auch gegenüber gesunden Entscheidungen. Diese Mechanismen muss man im Heilungsprozess erkennen lernen, was nicht so einfach ist, da auch sie oft als eigene Entscheidungen und eigener Persönlichkeitsstil eingeschätzt werden.
• Die Wut rauslassen
Die Erkenntnis, was dir geschehen ist, was dir der toxische Mensch angetan hat und wie viele Menschen sich einfach weggedreht und sein Verhalten, die Gewalt zugelassen haben, kann enorme Wut auslösen. Und die verraucht nicht unbedingt sehr schnell oder explodiert immer wieder mal wie ein Vulkan. Für Menschen, die eine toxische Beziehung oder mehrere hinter sich haben, ist es gar nicht so leicht, diese Wut zuzulassen. Auch das musst du erst lernen, denn auch starke Gefühle wie Wut zulassen zu können, ist ein wichtiger Schritt zur Heilung.
• Die Trauer zulassen
Was für die Wut gilt, gilt auch für die Trauer. Zu erkennen, was dir geschehen ist und was du aufgrund der Gewalt des toxischen Menschen alles verpasst und verloren hast, kann ein enormes Gefühl der Trauer auslösen. Dies zu erkennen und zuzulassen, kann ebenfalls sehr hilfreich für deinen Weg sein.
• Die Scham überwinden
Scham ist ein sehr großes Thema für Opfer toxischer Gewalt. Denn kaum etwas kann Opfer toxischer Menschen so gefügig und kontrollierbar machen wie Scham. Diese Scham kann das komplette Leben eines Menschen verhüllen, den Körper, seine natürlichen Vorgänge und Bedürfnisse, die Art sich zu bewegen, zu sprechen, Gedanken, Wünsche, Träume, die eigenen Gefühle – all das kann für Opfer toxischer Menschen extrem schambehaftet sein. Sich davon zu lösen und zu erkennen, dass diese Scham nicht zur eigenen Persönlichkeit gehört, sondern eine durch den toxischen Menschen aufgezwungene Reaktion, und sie anschließend zu überwinden, ist ein unglaublich wichtiger Schritt.
• Gedankensubstitution einüben
Gedankensubstitution heißt, bisherige Gedankenmuster durch neue, hilfreiche, unterstützende zu ersetzen. Um das schaffen zu können, musst du zunächst die schädigenden Gedankenmuster, die du aufgrund der toxischen Gewalt angenommen hast, identifizieren, um dann neue Gedanken (-muster) einüben zu können.
• Die eigenen Grenzen kennenlernen
Sehr typisch für toxische Beziehungen ist, dass toxische Menschen immer wieder die Grenzen ihrer Opfer verletzen. Selbst dann, wenn die Opfer unmissverständlich nein sagen. Genauso wichtig (und höchste Zeit) wie die Kampagne „Nein heißt nein!“ und das darauffolgende Gesetz zur Stärkung der sexuellen Selbstbestimmung (auch gegenüber toxischen Menschen) waren, ist es für deren Opfer, ihre Grenzen (wieder) kennenzulernen. Erst wenn du deine Werte und Grenzen kennst, kannst du lernen, konsequent nein zu sagen und den toxischen Menschen in deinem Leben zu zeigen, wer über dich und dein Leben bestimmt: du und nur du allein.
• Den Körper (wieder) spüren lernen
Was vielen Opfern im Lauf einer toxischen Beziehung abhanden kommt, ist ein Gefühl für den eigenen Körper. Sie vernachlässigen sich und ihre körperlichen Bedürfnisse, auch weil sie sich permanent um die Bedürfnisse, Wünsche und Forderungen des toxischen Menschen kümmern müssen. Hattest du ein toxisches Elternteil, hast du vielleicht sogar nie gelernt, deinen eigenen Körper und die eigenen Bedürfnisse wirklich zu spüren. Dies musst du Schritt für Schritt (wieder) erlernen.
Das ist schon eine ganze Menge, was eine Heilung beinhalten kann, oder? Aber atme nochmal tief durch, es geht nämlich weiter – denn Heilung nach toxischer Gewalt ist leider nicht mal eben nach zwei Wochen abgehakt.
• Dir selbst vergeben können
Der schon weiter oben genannte innere Kritiker sorgt dafür, dass viele Opfer sich nach dem Ende einer Beziehung zu einem toxischen Menschen – insbesondere (aber nicht nur), nach schwerer körperlicher Gewalt und/oder wenn der sie finanziell abgezockt hat – selbst beschimpfen. Sie machen sich große Vorwürfe, wie sie es nur so weit haben kommen lassen können. Daher ist es ein sehr wichtiger, aber auch schwieriger Schritt, dir selbst vergeben zu lernen. Radikal zu akzeptieren, dass du Geschehenes nicht ändern kannst, und zu erkennen, dass es nicht deine Schuld war.
• Dich den Ängsten stellen
Sehr viele Opfer entwickeln im Laufe einer toxischen Beziehung diverse Ängste. Sind die einmal da, verschwinden sie nicht einfach von selbst, wenn die Beziehung beendet ist. Es braucht seine Zeit, um diese Ängste zu erkennen, Stück für Stück abzubauen und durch Gefühle wie Gelassenheit, Entspannung und innere Ruhe ersetzen zu können.
• Verlassenheitsgefühle überwinden
Je länger eine toxische Beziehung dauerte, desto stärker können die Verlassenheitsgefühle nach dem Ende der Beziehung sein. Unter anderem aufgrund der Traumabindung können diese erheblich stärker sein als die Gefühle nach dem Ende einer normalen, gesunden Beziehung. All dies muss man aber erst einmal erkennen können, dann zulassen und, wenn es Zeit dafür ist, überwinden.
• Selbstmitgefühl lernen und zulassen
Das ist ein ganz schwieriger Heilungsschritt, denn vielen Opfern wurde im Laufe der Beziehung durch ständige Gewalt aberzogen, Mitgefühl für sich selbst zu empfinden. Aus manchen wurde es herausgeprügelt, manche wurden dafür so lange verhöhnt, bis sie es aus Scham unterdrückten. Gemein haben sie, dass sie nach dem Ende der Beziehung lernen müssen, Selbstmitgefühl zu empfinden und es auch wohlwollend und liebevoll zuzulassen, ohne sich dafür zu kritisieren oder zu schämen.
• Den Panzer öffnen
Wer zu viele toxische Beziehungen oder zu viel Gewalt erlebt hat, hat sich vielleicht innerlich so weit zurückgezogen, dass sie oder er keine gesunden Beziehungen mehr eingehen kann und möchte. Diese Menschen haben einen Panzer entwickelt, durch den (vermeintlich) nichts Negatives, Verletzendes mehr hindurch kann. Allerdings haben sie auch alles Negative aus den toxischen Beziehungen mit in diesen Panzer eingeschlossen. Ihn nun zu öffnen, um wieder gesunde, stärkende und beglückende Beziehungen eingehen zu können, kann ein sehr langer Prozess sein.
• Hilfe suchen und annehmen lernen
So vielen Opfern toxischer Menschen wird Hilfe verwehrt. Viele Menschen glauben ihnen nicht. Andere haben beschlossen, sich auf die Seite des toxischen Menschen zu stellen. Und wieder andere geben vor lauter toxischer Positivität gerne Ratschläge, die sich allzu oft als schädlich für die Opfer herausstellen. Nach solchen Erfahrungen kann es sehr schwer sein, sich Hilfe zu suchen und zu lernen, sie anzunehmen.
• Lernen, selbst zu agieren statt zu reagieren
Manche Opfer wurden so stark beeinflusst oder sogar indoktriniert, dass sie ihr Handeln (fast) ausschließlich an dem toxischen Menschen ausgerichtet haben. Sie mussten auf Anweisungen warten, sich wunschgemäß verhalten oder auch gegen diesen Menschen rebelliert. Alles stand immer im Zusammenhang mit diesem Menschen. Einige haben dadurch verlernt (oder es als Kinder toxischer Eltern nie lernen können), eigenständige Entscheidungen zu treffen und warten eher ab, welche Vorschriften der toxische Mensch ihnen macht oder wogegen sie aufbegehren können. Andere haben wichtige Lebensentscheidungen dem toxischen Menschen überlassen (müssen) und müssen nun lernen, diese selbst zu übernehmen und entsprechend zu handeln. Zu lernen, (wieder) zu agieren, statt nur zu reagieren, kann ein schmerzhafter, angsteinflößender und schwieriger, aber nötiger Weg sein.
• Lernen, Geduld mit dir selbst zu haben
Geduld mit sich selbst zu haben, ist etwas, das vielen Opfern toxischer Menschen fehlt. Der innere Kritiker, die Scham, aber auch die Handlanger toxischer Menschen, die Flying Monkeys und Enabler:innen , machen Druck, dass das doch nun wirklich schneller gehen müsste mit der Heilung. So schlimm sei das doch alles gar nicht gewesen. Und es sei doch nun wirklich nicht zu verstehen, warum das jetzt alles so lange dauert. Warum es auch immer wieder Rückschläge gibt. Natürlich stimmt das so nicht. Vielmehr berührt der Heilungsweg deinen innersten Kern, er stellt vieles von dem infrage, was du vielleicht schon dein Leben lang als gesetzt angenommen hast, was du schon so lange fest geglaubt hast. Er rüttelt vielleicht dein ganzes Leben durcheinander, du verlierst möglicherweise alte Freundschaften und Familienbeziehungen, deine Arbeit, deine Wohnung – all das kann unglaublich schwierig sein. Du wirst vielleicht eine Menge Hochs und Tiefs in diesem Prozess erleben. Aber du wirst es nicht alles über Nacht in ewige Glückseligkeit verwandeln können. Dies zu erkennen und zu lernen, Geduld mit dir selbst zu haben, ist ein enorm wichtiger Baustein für deinen Heilungsprozess.
• Liebevolle Selbstfürsorge lernen
Und nicht zuletzt müssen Opfer lernen, sich (wieder) richtig gut um sich selbst zu kümmern. Sich Auszeiten zu gönnen, selbst wenn andere das nicht verstehen und dagegen sind. Sich selbst etwas Gutes zu tun, um das ganze Gift des toxischen Menschen wenigstens im Ansatz auszugleichen zu versuchen. Besonders, wenn du schon als Kind durch ein toxisches Elternteil gelernt hast, dass du es nicht wert bist, fürsorglich, sorgsam und liebevoll behandelt zu werden, ist dies einer der wichtigsten Schritte für die Heilung überhaupt.
Denn du bist es wert.
Warum dauert es so lange? Genau darum!
Du siehst, dass es sehr viele Stadien der Heilung nach toxischer Gewalt geben kann (und die hier aufgelisteten sind längst noch nicht alle). Und dann geht es im Heilungsprozess, der alles, aber nicht linear ist, auch noch immerzu auf und ab und auf und ab. Es ist also kein Wunder, dass es manchmal wirklich lange dauern kann, bis ein Opfer sagen kann, dass der Heilungsprozess auf einem richtig guten Weg ist, dass es sich sein Leben wieder vollständig zurückgeholt hat und dass es jetzt (wieder) ein glückliches und freies Leben lebt. Bei manchen dauert es Monate, bei anderen viele Jahre – das ist von Mensch zu Mensch verschieden. Und jeder Zeitraum ist o. k. Nimm dir also die Zeit, die du brauchst.
Solltest du nicht selbst betroffen sein, aber ein Opfer eines toxischen Menschen kennen, bitte bedränge es nicht und sage nicht Dinge wie Warum dauert das denn so lange? oder Ich verstehe gar nicht, wie es so weit kommen konnte. Oben siehst du ja, was toxische Gewalt alles anrichten kann. Hast du es nicht selbst genau so erlebt wie das Opfer, halte dich bitte mit unüberlegten Aussagen und Urteilen zurück. Habe bitte Geduld, Mitgefühl und ein offenes Ohr für das Opfer. Und unterstütze es, wenn es um deine Unterstützung bittet. Denn genau das braucht jedes Opfer toxischer Menschen von anderen – nicht mehr und nicht weniger.
Toxiversum-Hör- und Lesetipps
- Podcast von Verena König: „Kreative Transformation“
- Buch von Prof. Judith Lewis Herman: „Die Narben der Gewalt: Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden“
- Buch von Pete Walker: „Posttraumatische Belastungsstörung. Vom Überleben zu neuem Leben. Ein praktischer Ratgeber zur Überwindung von Kindheitstraumata“