Die Folgen einer Mitgliedschaft in einer toxischen Gruppe oder Sekte.

Hast du „Was ist eine toxische Gruppe oder Sekte“ und Woran kannst du eine toxische Gruppe oder Sekte erkennen?“ noch nicht gelesen, kannst du das hier und hier nachholen.

Bis auf die Gruppenführung kommt so gut wie kein Mitglied einer toxischen Gruppe oder Sekte unbeschadet davon. Das Leben in und mit einer solchen Gruppe kann gravierende Auswirkungen auf dich, deine Gesundheit und dein Leben haben. Häufig sind das Auswirkungen, die du deinem schlimmsten Feind nicht wünschen würdest. Und die dein Leben noch lange beeinträchtigen können.

Welche Folgen kann eine Mitgliedschaft in einer toxischen Gruppe oder Sekte haben?

Die Ärztin Dr. Caroline Ansley sagte auf der internationalen Sektenkonferenz Decult 2024, dass es international kaum empirische, quantitative Nachweise über Gesundheitseffekte auf Menschen in Sekten gebe. Der Hauptgrund dafür sei, dass es bis heute in unseren Gesellschaften und Gesundheitssystemen noch nicht anerkanntes Wissen sei, dass toxische Gruppen und Sekten ihren Mitgliedern schaden. So basieren die unten aufgelisteten Folgen v. a. auf den Erfahrungsberichten zahlreicher ehemaliger Mitglieder von Sekten oder toxischen Gruppen, aus der Arbeit von Sektenexpert:innen wie Dr. Janja Lalich und Dr. Steven Hassan und aus dem, was auf Sektenmitglieder spezialisierte Therapeut:innen wie Dr. Gillie Jenkinson berichten.

Folgen für Mitglieder, die noch in der Gruppe/Sekte sind

Was du innerhalb der toxischen Gruppe oder Sekte erlebst, kann bereits sehr starke Auswirkungen auf dich haben. Auch dann, wenn du das bislang gar nicht so wahrgenommen hast. Denn du folgst einer Doktrin, die dir scheinbar viel gibt, aber in Wirklichkeit sehr große Schäden anrichten kann. Nicht alle Mitglieder spüren diese Auswirkungen, und manche Mitglieder spüren nur die eine oder andere. Doch engagierte, langjährige Mitglieder werden wahrscheinlich viele der Folgen kennen. Dazu gehören z. B. diese:

  • Dein Werte- und Glaubenssystem wird vollständig durch das der Gruppenführung ersetzt.
  • Du verlierst den Kontakt zu deiner Familie und deinen Freund:innen, die nicht Teil dieser Gruppe sind.
  • Du bist permanent unter Druck, Leistungen abzuliefern, alles richtig zu machen, nicht gegen die Regeln zu verstoßen.
  • Du wirst ständig beobachtet und kontrolliert. Selbst dein Privatleben, dein Familienleben und deine Sexualität werden beobachtet, kontrolliert und geleitet.
  • Du bist immerzu in Hab-Acht-Stellung.
  • Du bekommst viel zu wenig Schlaf, bist dauernd müde, gehetzt und kraftlos.
  • Deine Entscheidungsfähigkeit ist in dieser Zeit stark eingeschränkt, denn du bist auf die Vorgaben und die Führung durch andere angewiesen.
  • Dadurch verlierst du deutlich an Selbstwertgefühl und Eigenständigkeit.
  • Deine Perspektiven sind eingeschränkt, weil sich fast alles bei dir um die Gruppe dreht und du ihr alles unterordnest.
  • Deine Finanzlage ist nicht die beste, denn du gibst viel Geld an die Gruppe, bezahlst für Fortbildungen und hast vielleicht deine Ersparnisse bereits aufgebraucht. Womöglich hast du deinen Job draußen entweder aufgegeben oder die Stunden reduziert, um mehr Zeit für die Gruppe zu haben. Das heißt aber auch: weniger finanzieller Spielraum und weniger Rentenzahlungen.
  • Bist du für die Gruppe ins Ausland gezogen, hast du außerhalb der Gruppe keine Menschen mehr, die dich kennen, dir Rückhalt geben, dich auffangen, aufrichten und unterstützen. Dein Lebensraum hat sich extrem verkleinert.
  • Dein Leben ist unfrei, und dich begleiten viele Zweifel und Ängste.
  • Du sollst immerzu an dir selbst arbeiten, weil angeblich alles, was nicht funktioniert, was dir merkwürdig vorkommt oder dich stört, nur ein Problem mit deiner Einstellung und deinem Engagement sei. Deshalb drehst du dich ständig im Kreis, anstatt voran zu kommen, wie es eigentlich der Plan war.
  • Vielleicht verzweifelst du, weil du einfach keine Fortschritte machst.
  • Du kannst dadurch Depressionen und chronische Krankheiten entwickeln, vielleicht auch Suchtverhalten, und dich selbst verletzen.
  • Für viele Mitglieder toxischer Gruppen, Kinder wie Erwachsene, bedeutet die Mitgliedschaft auch, täglicher Gewalt ausgesetzt zu sein. In erster Linie ist dies meist psychische Gewalt. Doch auch körperliche und sexuelle Nötigung und Gewalt sind für viele in toxischen Gruppen und Sekten Alltag.
  • Viele Mitglieder entwickeln im Lauf der Zeit eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS).

Du traust dich lange nicht, die Gruppe zu verlassen. Zu oft musstest du dir anhören, dass du ein Nichts ohne die Gruppe seist. Du hast vielleicht auch keinen Menschen in der Gruppe, dem du dich mit deinen Zweifeln und Sorgen in einem sicheren Rahmen anvertrauen könntest. Und du weißt, wer die Gruppe trotz allem verlassen möchte und solche Gedanken äußert, wird stark unter Druck gesetzt, vielleicht sogar bedroht oder umstandslos rausgeworfen. Bist du in einer religiösen Gruppe oder Sekte, wird dir immer wieder mit der Hölle gedroht, in die du selbstverständlich keinesfalls geraten willst.

Also erträgst du, was dort geschieht. Und du legst alles, was dich stört, was dir Angst macht, was du nicht verstehst und das dich an der Gruppe zweifeln lässt, irgendwo in deinem Hinterkopf ab, wie auf einem Regal. So lange, bis dieses Regal eines Tages unter der angesammelten Last zusammenbricht. Das ist dann der Moment, an dem du die Gruppe verlässt, komme, was wolle. Vielleicht aber gehörst du auch zu denen, die aus der Gruppe herausgeworfen werden.

Folgen für Menschen, die die Gruppe/Sekte verlassen haben

Mit dem Ausstieg oder Rauswurf aus der toxischen Gruppe/Sekte ist das Leid für viele noch nicht vorbei. Insbesondere wer jahrelang in einer toxischen Gruppe oder Sekte war oder sogar darin aufgewachsen ist, wird dem Neustart in der Freiheit nicht nur Positives abgewinnen können. Zusätzlich zu den oben genannten Folgen können dich diese Dinge stark beeinträchtigen:

  • Alle deine Kontakte in der Gruppe wenden sich augenblicklich von dir ab. Du stehst plötzlich absolut alleine da und weißt gar nicht mehr, wie das Leben in der normalen Welt funktioniert. Denn dein Leben hat ja bislang vollständig nach den Regeln der Gruppe funktioniert. Die gelten draußen aber nicht, im Gegenteil, sie werden abgelehnt oder belächelt. Hier draußen musst du alles (nochmal) neu lernen.
  • Vielleicht hast du auch außerhalb der Gruppe keine Freund:innen oder Familie (mehr), die dich aufnehmen oder bei deinem Neubeginn unterstützen können.
  • Du fühlst dich isoliert und alleine.
  • Du hast vielleicht kein Finanzpolster (mehr), um dir ein Leben außerhalb der Gruppe aufzubauen. Und das Geld, das du der Gruppe übergeben hast, wirst du nicht zurückbekommen.
  • Wer für die Gruppe ins Ausland gezogen ist, kann vielleicht nicht einmal genug Geld zusammenkratzen, um sich die Rückreise nach Deutschland zu leisten.
  • Du hattest in der Gruppe eine Identität, die nicht oder nur wenig mit deiner tatsächlichen Identität zu tun hatte. Letztere wieder auszugraben, ist sehr viel schwerer als du dachtest. Bis dahin weißt du gar nicht mehr so recht, wer du überhaupt bist.
  • Du wurdest so stark indoktriniert, dass du dich von diesen Glaubenssätzen nur schwer lösen kannst. Du willst nicht glauben, dass das alles falsch gewesen sein soll, was du dort gelernt hast. Besonders dann, wenn dir einiges davon tatsächlich beruflich oder privat geholfen hat. Dieser Gegensatz kann sehr verwirrend sein.
  • Erkennst du aber schließlich, dass du einer toxischen Gruppe oder Sekte aufgesessen bist, wirst du wahrscheinlich vor Scham im Boden versinken wollen.
  • Du wirst dir vielleicht viele Selbstvorwürfe machen, wie dumm (denkst du) du doch gewesen seist, auf so etwas hereinzufallen, das doch (jetzt) so offensichtlich toxisch ist.
  • Vielleicht wirst du ein schlechtes Gewissen haben, so viele Menschen in die Gruppe hineinrekrutiert zu haben und sie nun dort zurückgelassen zu haben.
  • Du findest es schwer zu ertragen, selbst an der ganzen seelischen, emotionalen, körperlichen und finanziellen Gewalt (womöglich aktiv) teilgenommen zu haben.
  • Du wirst vielleicht wütend auf dich selbst sein, das alles zugelassen und sogar unterstützt zu haben.
  • Diese Wut und Scham kann dich dazu bringen, nie wieder darüber sprechen zu wollen, alles nur in dich hineinfressen zu wollen. Doch du wirst merken, dass dich das bremst und nicht wirklich glücklich macht.
  • Dir wird in der Außenwelt sehr viel Unverständnis begegnen, vielleicht sogar Häme und Vorwürfe.
  • Vielleicht wird deine Scham zunehmen, und du wirst dich immer unwohler fühlen.
  • Du wirst die Gruppe vermissen, die täglichen Kontakte, die Lehrstunden, den geregelten Alltag, die gemeinsame Arbeit und das Gemeinschaftsgefühl. Doch der Gegensatz zu dem, was die Gruppe angerichtet hat, macht dir zu schaffen.
  • Draußen ist nun kein Mensch mehr da, der dich anleitet, dir deine Entscheidungen abnimmt. Du musst alles selbst entscheiden, anstatt Anweisungen zu befolgen. Das kann unwahrscheinlich schwer und ermüdend sein. Es kann dich aber auch bestärken und dir neue Energie verleihen.
  • Du hast in der Gruppe ein Schwarz-Weiß-Denken gelernt, dass dir jetzt nur Hindernisse bereitet.
  • Die Welt außerhalb der Gruppe erscheint dir so verwirrend und überwältigend, dass du Schwierigkeiten hast, dir deine Zukunft und deinen Platz darin vorzustellen.
  • Du hast Schwierigkeiten, den Menschen außerhalb der Gruppe zu trauen. Zu tief sitzt der Glaube daran, dass die Welt jenseits der Gruppe schlecht ist und die Menschen dir nur Böses wollen.
  • Du kannst das, was du in der Gruppe gelernt und irgendwann für richtig befunden hast, mit der Außenwelt überhaupt nicht übereinbringen. Z. B. endet die Welt mitnichten dann, wenn es die religiöse Gruppe behauptet hat. Oder die Geschlechterrollen, die nicht so strikt verteilt sind wie in der Gruppe, bringen die Welt auch nicht zum Einsturz.

Weitere typische körperliche und mentale Folgen für ehemalige Mitglieder toxischer Gruppen oder Sekten

  • komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS),
  • Ängste, Panikattacken, Suizidgedanken,
  • Phobien und Zwangsstörungen,
  • Verzweiflung, Depressionen, Trauer,
  • Verlustgefühle (z. B. der Verlust von Zeit, deiner Jugend, vieler Eigenschaften, der Gemeinschaft oder auch von verpassten Gelegenheiten wie z. B. Familiengründung, Schwangerschaft, Jobs usw.),
  • Gefühlslosigkeit, Abgestumpftheit,
  • Alpträume und permanentes Grübeln über die Gruppe, das Warum und deine eigenen Beiträge dazu,
  • nicht nein sagen können,
  • nicht abgrenzen können,
  • häufige Flashbacks,
  • Konzentrationsschwierigkeiten,
  • Schlafstörungen,
  • das Gefühl, nicht in deinem Körper zu sein,
  • Hoffnungslosigkeit,
  • stark erhöhte oder stark reduzierte Risikobereitschaft, Impulsivität,
  • Unentschlossenheit, Passivität, Energielosigkeit,
  • Hilflosigkeit und Gefühl der Wertlosigkeit,
  • Erinnerungslücken,
  • Zukunftsangst,
  • Essstörungen,
  • chronische Kopf- und andere Schmerzen,
  • unerklärliche körperliche Symptome,
  • Tabletten-, Alkohol-, Drogenabhängigkeit,
  • selbstverletzendes Verhalten.

Die häufigsten körperlichen und mentalen Auswirkungen für Menschen, die in eine Sekte hineingeboren wurden

(laut einer Studie von Esguerra, Farris & James, 2024*)

  • chronische Schmerzen,
  • Verdauungsprobleme,
  • Schlafschwierigkeiten,
  • Autoimmun-Krankheiten,
  • Affektstörungen (psychische Störungen mit starken Veränderungen deiner Stimmung und deines Antriebs),
  • Angststörungen,
  • Suizidalität und
  • komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS).

Was kannst du als Noch-Mitglied oder ehemaliges Mitglied einer toxischen Gruppe/Sekte tun?

Zunächst solltest du eins wissen: So gut wie jeder Mensch kann auf die Methoden toxischer Gruppen und Sekten hereinfallen. So gut wie jeder Mensch hätte denen geglaubt und alles genauso gemacht wie du. Du bist damit wirklich nicht alleine. Und du hast absolut keinen Grund, dich dafür zu schämen!

Bist du noch in der Gruppe/Sekte?

Bist du noch in der Gruppe oder Sekte und trägst dich mit dem Gedanken, auszusteigen? Doch du weißt nicht, wie das gehen könnte? Dann kontaktiere am besten ganz unverbindlich eine der Sektenberatungsstellen in deiner Nähe. Diese Menschen kennen sich mit solchen Situationen und Entscheidungen bestens aus, sie sind sehr einfühlend und unterstützend. Und sie begleiten dich auf deinem Weg so lange wie du brauchst, bis du aussteigen kannst. Beratungsstellen zu Sekten in Deutschland und der Schweiz findest du bei Infosekta.ch. Beratungsstellen zu Sekten in Österreich bei der Bundesstelle für Sektenfragen.

Bist du bereits ausgestiegen?

Bist du bereits aus der Gruppe oder Sekte ausgestiegen, suche dir unter den o. g. Links ebenfalls Unterstützung von Fachleuten. Sie können dich dabei unterstützen, all das zu bekommen, was du jetzt brauchst (Dokumente, Wohnung, Konto, Job, Ärzt:innen usw.).

Suche dir eine:n Therapeut:in mit nachgewiesener Erfahrung in der Behandlung von Sektenaussteiger:innen.
Lerne so viel wie möglich über die Methoden, die toxische Gruppen und Sekten benutzen. Es handelt sich in der Regel um die gleichen Methoden, die toxische Menschen allgemein benutzen, über die du hier auf dem Portal jede Menge Informationen finden kannst.

Habe Geduld mit dir selbst. Denn nach solchen Erlebnissen zu heilen kann sehr lange dauern (mehr dazu, warum das so lange dauert, findest du hier: „Warum dauert das so lange? Stadien der Heilung nach toxischer Gewalt“. Lerne auch, dir selbst zu verzeihen und dich mit sanfter Selbstfürsorge zu behandeln. Beides kann die den Schritt ins neue Leben sehr erleichtern.

Was kannst du als Angehörige:r eines (ehemaligen) Mitglieds einer toxischen Gruppe oder Sekte tun?

Möchtest du einem Menschen helfen, aus einer toxischen Gruppe oder Sekte zu entkommen, dann gibt es vieles bei der Vorgehensweise zu beachten. Genau wie bei toxischen Menschen kannst du dabei nicht automatisch so vorgehen, wie du es normalerweise tun würdest. Damit könntest du alles nur noch schlimmer machen, sowohl für dich als auch für den betroffenen Menschen. Wende dich deshalb unbedingt und sofort an eine Sektenberatungsstelle, die dich mit fachlich versiertem Rat unterstützen kann. Beratungsstellen zu Sekten in Deutschland und der Schweiz findest du bei Infosekta.ch. Beratungsstellen zu Sekten in Österreich bei der Bundesstelle für Sektenfragen.

Bei all dem solltest du darauf achten, deine Grenzen zu kennen und dich gut um dich selbst zu kümmern. Es kann sehr anstrengend und nervenaufreibend sein, zu versuchen, jemanden aus einer toxischen Gruppe oder Sekte herauszubekommen. Du wirst wahrscheinlich viel Geduld, Zuneigung und Durchhaltevermögen benötigen. Ist er erst einmal draußen, dann braucht dieser Mensch unbedingt Personen, die für ihn da sind, die ihm helfen, sich zurechtzufinden, die ihm zuhören, und die ihn nicht verurteilen. Du solltest immer im Hinterkopf behalten: Das könntest du sein. Du hättest ganz genauso auf diese toxische Gruppe oder Sekte hereinfallen können. Mehr Infos dazu findest du hier: „Warum tritt jemand einer Sekte bei?“

Mehr über die Red Flags und Methoden toxischer Menschen findest du hier.

Und mehr dazu, wie du dich vor diesen Methoden schützen kannst, findest du hier.


* Maria Esguerra, Jemima Farris & Whisper James, „Barriers faced for born-in-cult survivors and the need for specifically designed mental health programmes and support services“ (2024, bislang unveröffentlicht, Stand Januar 2025)