In letzter Zeit mehren sich Artikel in Medien darüber, dass es gar keine toxischen Menschen gebe. Dass der Begriff an sich entmenschlichend sei. Oder dass wir eigentlich alle zumindest ein kleines bisschen toxisch seien. Unter den Artikeln sammeln sich zahlreiche zustimmende Kommentare. Also, was ist da dran? Und was hat das mit #MeToo zu tun?
Diese Artikel erscheinen in Tages- und Wochenzeitungen, Magazinen, Blogs und Portalen. Doch sie sind selbst in renommierten Medien erschreckend oft oberflächlich, subjektiv und einseitig oder offenkundig nicht recherchiert. Und sie zeugen häufig von einer bemerkenswerten Unkenntnis der Materie. Sie werden teilweise von Kolleg:innen geschrieben, die für völlig andere Ressorts schreiben. Manche ziehen ihr „Wissen“ dem Anschein nach aus Krimiserien, von Social Media oder aus einer flüchtigen Google-Suche. Es kommen – wenn überhaupt – meist die gleichen Expert:innen zu Wort, deren Aussagen oft zweifelhaft sind. Und ausgerechnet die Opfer toxischer Menschen und die langfristigen Folgen der Gewalt werden häufig einfach übergangen. Was allerdings in der Natur der Sache liegt, denn wenn es keine toxischen Menschen gibt, dann kann es ja auch keine Opfer toxischer Menschen geben, ganz klar. Also sind die, die jetzt immer von „toxischen Menschen“ reden, wirklich nur hysterisch, reiten sie nur auf der Trendwelle mit, um ein paar Klicks abzugreifen, und ist an der Kritik etwas dran?
Gibt es also wirklich keine toxischen Menschen?
Doch, es gibt toxische Menschen. Nicht nur in Krimiserien, sondern – wissenschaftlich nachgewiesen – auch in der Realität. Und sie sind nicht nur Massenmörder und Millionenbetrügerinnen, sondern sie können auch bspw. unsere Eltern, Geschwister, Freund:innen, Nachbar:innen, Vermieter:innen, Vorgesetzten, Kolleg:innen, Ärzt:innen, Jurist:innen, Lehrer:innen, Handwerker:innen und sogar unsere Kinder sein. Aber was heißt denn „toxischer Mensch“ überhaupt?
Unter dem Begriff „toxisch“ werden die typischen toxischen, also narzisstischen, soziopathischen, psychopathischen u. ä. Persönlichkeiten zusammengefasst. Das Wort „toxisch“ steht dabei als Sammelbegriff für das systematische, bösartige, zermürbende, gefährliche, schädliche, zerstörerische, teilweise tödliche Verhalten von Menschen mit toxischen Charaktereigenschaften.
Dass wir jetzt nicht jedesmal „Mensch mit systematisch bösartigem, zermürbendem, gefährlichem, schädlichem, zerstörerischem, teilweise tödlichem Verhalten aufgrund toxischer Charaktereigenschaften“ sagen, sondern diesen Wust unter dem Begriff „toxischer Mensch“ zusammenfassen, ist ungefähr das Gleiche wie unter dem Begriff „rotes Auto“ sämtliche KFZ-Marken und -Modelle roter Farbe zusammenzufassen. Es ist leicht verständlich und ökonomisch.
Ist der Begriff „toxische Menschen“ entmenschlichend?
Ich kann nicht so recht nachvollziehen, warum manche Menschen glauben, der Begriff „toxischer Mensch“ sei entmenschlichend. Ja, er vereint ganz offensichtlich nur das Negative eines Menschen und ist dadurch eine einseitige, wertende Verknappung. Doch genau darum geht es ja. Es geht darum, das gewalttätige Verhalten dieser Menschen in den Vordergrund zu stellen und es als inakzeptabel zu bewerten.
Berichten wir z. B. über einen Menschen, der kaltblütig eine Bank ausgeraubt hat, dann nennen wir ihn einen „kaltblütigen Bankräuber“, wenn wir über seine gewalttätige(n) Tat(en) sprechen. Wir benennen mit dem Ausdruck dann natürlich nicht seine Vorliebe für gelbe Socken, seinen beneidenswerten grünen Daumen oder dass er schon immer ganz dicke mit seinem schwerbehinderten Bruder war oder Muttis Liebling ist. Wir müssen also bis zu einem gewissen Grad verknappen, um in aller gebotenen Kürze verständlich machen zu können, worum es geht.
Wenn ich über toxische Menschen schreibe, dann beziehe ich mich mit dem Begriff also darauf, dass sie gegenüber vielen Menschen systematisch Gewalt ausüben, seelische, emotionale, körperliche, finanzielle, soziale, digitale usw. Gewalt. Denn sie alle haben einen teilweisen oder sogar vollständigen Mangel an emotionaler Empathie. Es ist ihnen deshalb häufig schlicht egal, wenn sie anderen Menschen wehtun oder schaden. Und anders als in Krimiserien sind sie so gut wie nie einsichtig oder gar im Grunde ihres Herzens gute Menschen, die „nur“ ein bisschen von der Bahn abgekommen sind. Ein sehr großer Teil ihrer Persönlichkeit speist sich aus Gewalt, und das müssen wir benennen.
Ist es also entmenschlichend, solche Menschen „toxische Menschen“ zu nennen, wenn es um ihre toxischen Verhaltensweisen geht? Ich denke nicht.
Sind wir alle ein bisschen toxisch?
Immer wieder lesen wir auch Artikel dazu, dass wir doch alle ein bisschen narzisstisch seien. Damit wird suggeriert, dass Narzissmus im Grunde gar nichts Schlimmes sei. Wir alle sind schließlich ein bisschen eitel, denken wir, wir sind uns manchmal selbst die Nächsten, und wir gebrauchen auch mal eine kleine Notlüge.
Doch ich halte diese Aussagen für sehr gefährlich, insbesondere, wenn Psychotherapeut:innen oder Menschen in der Strafverfolgung dies Opfern toxischer Gewalt sagen. Denn damit suggerieren sie, dass Narzissmus und andere toxische Persönlichkeitsstrukturen eigentlich ganz harmlos seien. Sie sagen dann zwar oft, dass es sich bei narzisstischem und anderem toxischen Handeln zwar um ein Spektrum handle, auf dessen Skala das Toxische von niedrig bis hoch reiche. Doch sie tröten mit der pauschalen Aussage, dass wir alle ein bisschen narzisstisch seien, in das Horn toxischer Menschen. Sie verharmlosen damit Gewalt, und das kann schlimme Auswirkungen auf und für die Gewaltopfer haben.
Sind wir also alle ein bisschen toxisch? Nein. Denn das sind wir nur, wenn wir systematisch und wiederholt Gewalt zu unserem persönlichen Vorteil und zum Schaden anderer ausüben, ob es sich um häusliche Gewalt handelt oder noch andere Gewaltformen.
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Warum behaupten so viele dennoch, es gebe keine toxischen Menschen?
Diejenigen, die behaupten, es gebe gar keine toxischen Menschen, können wir in drei Gruppen einteilen.
- Toxische Menschen selbst behaupten in aller Regel, dass sie nicht toxisch seien und dass es ohnehin außer Serienmörder:innen gar keine toxischen Menschen gebe (und selbst die seien eigentlich gar nicht toxisch). Allerdings widersprechen sie sich (wenig überraschend) selbst, wenn sie bspw. ihre aktuellen oder Ex-Partner:innen als „völlig gestört“ und „toxisch“ bezeichnen.
- Der toxische Fanclub, bestehend aus Flying Monkeys und Enabler:innen , behauptet ebenfalls regelmäßig, dass es keine toxischen Menschen gebe. Du kennst dieses Muster vielleicht aus den Medien, wenn du liest, dass Angehörige einer Sekte behaupten, die Sekte sei gar keine Sekte, und die Sektenführung sei nicht toxisch. Oder wenn die Nachbar:innen von Gewalttäter:innen sagen, dass sie nie gedacht hätten, dass diese Menschen gewalttätig seien, weil die doch immer „so nett“ waren. Oder wenn Menschen, die absolut keine Ahnung vom Thema haben, irgendetwas unhinterfragt nachplappern, einfach nur, weil sie auch mal mitreden oder sich wichtig tun wollen.
- Und nicht zuletzt sind es die ahnungslosen Romantiker:innen und toxisch Positiven , die immer nur das Gute im Menschen sehen und einfach nicht glauben wollen, dass ein Mensch systematisch Gewalt anwenden kann. Aber sie wollen sich auch gar nicht weiter informieren, um ihre Sicht an die Realität anpassen zu können, weil sie diese Realität gar nicht sehen wollen.
Dadurch entsteht eine sehr ungute Diskursverschiebung, die aber auch damit zu tun hat, dass dieses Thema noch relativ unbekannt ist. Dass wir zu wenig über toxische Menschen und die Folgen für ihre Opfer und für unsere Gesellschaft wissen. Und damit kommen wir zur nächsten Frage:
Was hat das alles mit #MeToo zu tun?
2017 brachte ein Aufruf der amerikanischen Schauspielerin Alissa Milano eine Riesenwelle auf den Weg. Auf Twitter forderte sie Menschen dazu auf, ihre Erlebnisse mit sexuellen Belästigungen und Angriffen zu teilen. Schnell etablierte sich dafür Tarana Burkes Hashtag #MeToo, der in zahlreichen Ländern dieser Welt trendete und zu einer riesigen Bewegung führte: der #MeToo-Bewegung.
#MeToo brachte einerseits zutage, wie alltäglich sexuelle Gewalt weltweit ist. Andererseits zeigte der Hashtag aber auch, wie lange schon und wie sehr diese systematische Form der Gewalt verleugnet wurde. Wie sehr die Opfer unter Druck gesetzt wurden, nicht darüber zu sprechen. Wie problemlos die Täter:innen einfach weitermachen konnten, ohne dass es darüber öffentliche Diskussionen gab oder sich in der Strafverfolgung irgendetwas änderte. Und es wurde klar, wie viele Menschen die Opfer bis heute abwerten, verhöhnen und zum Schweigen bringen wollen. Das beste Beispiel dafür ist das Wort „Opfer“, das schon auf vielen Schulhöfen als Schimpfwort benutzt wird und mit dem sich Menschen, die Opfer geworden sind, nicht bezeichnen können und wollen.
Sehr ähnlich ist es mit dem ganzen restlichen Spektrum toxischer Gewalt. Es wird nicht darüber gesprochen, es wird von vielen noch immer geleugnet, dass es Menschen gibt, die diese Gewalt systematisch ausüben, und Opfer werden bis heute abgewertet, verhöhnt und zum Schweigen gebracht.
Und was bedeutet das für die Opfer toxischer Menschen?
Wer leugnet, dass es toxische Menschen gibt, also Menschen, die systematisch toxisches Verhalten zum eigenen Vorteil an den Tag legen, denen es völlig egal ist, wie es ihren Opfern damit geht, sagt damit gleichzeitig, dass das, was Millionen Menschen weltweit tagtäglich durchleiden müssen, gar nicht existiere. Und bläst damit ins selbe Horn wie toxische Menschen, die genau das ihren Opfern permanent eintrichtern: dass sie angeblich „übertreiben“ würden, „hysterisch“ seien, sich „mal nicht so anstellen“ oder „nicht immer so empfindlich sein“ sollten.
Wer solche Artikel schreibt und veröffentlicht, fügt damit also Gewaltopfern weitere Gewalt zu. Beschämt sie noch mehr und zwingt sie zu schweigen. Und nimmt ihnen dadurch nicht nur die Möglichkeit, Gerechtigkeit für erlebtes Unrecht und Gewalt zu bekommen. Sondern nimmt ihnen auch das, was die Kolleg:innen in den Redaktionen ganz selbstverständlich für sich selbst aber in Anspruch nehmen: ihre Freiheit und ihr Grundrecht auf Unversehrtheit.
Andere mögen den Begriff nutzen, um eine Person oder eine Sache aus ganz banalen Gründen abzuwerten oder um sich über Opfer lustig zu machen. Doch das sollte uns alle (besonders die Kolleg:innen im Journalismus) keinesfalls dazu verleiten, uns ausschließlich in akademischen und Semantik-Diskussionen zu verheddern und es bei oberflächlichen, einseitigen Meinungsbeiträgen zu belassen. Denn die führen unweigerlich zu Rechtfertigungen und Verharmlosung von Gewalt. Und dies wiederum führt laut der Gewaltexpertin Prof. Dr. Jane Monckton-Smith dazu, dass Gewalt eher befürwortet und unterstützt als abgelehnt wird.
Eins der größten Probleme, die daraus folgern, ist, dass das Gewalterleben der Opfer und die oft jahre- oder lebenslangen Folgen dieser Gewalt einfach nicht zählen. Diese Menschen werden wieder nicht gehört. Sie bekommen weiterhin keine oder viel zu wenig Hilfe. Und ihnen wird überdies Mitverantwortung oder sogar Schuld an der Gewalt zugeschoben, die aber niemals (!) bei ihnen, sondern grundsätzlich bei den Täter:innen liegt. Der immense Schaden, den dies für die Opfer, ihre Familien, ihr Umfeld, ihren Arbeitsplatz und damit auch für uns alle bedeutet, ist bis heute noch nicht beziffert.
Der Weg ist offensichtlich noch sehr lang. Und jeder Artikel, der behauptet, es gebe keine toxischen Menschen, verlängert diesen Weg und die Qualen zahlloser Opfer ins Unendliche.