Warum schreibe ich über Opfer toxischer Gewalt, nicht über Überlebende?

Hier im Toxiversum schreibe ich über Opfer toxischer Gewalt. Ich schreibe nicht über Überlebende toxischer Gewalt, wie es bspw. in englischsprachigen Ländern derzeit üblich ist. Doch warum benutze ich den Begriff „Opfer“ ganz bewusst, obwohl er auch in Deutschland sehr unbeliebt ist?

Natürlich steht es allen, die toxische Gewalt erfahren haben, frei, sich selbst als Opfer wahrzunehmen oder als Betroffene:r oder Überlebende:r – oder auch nicht. Doch der Begriff „Opfer“ ist für viele Menschen tatsächlich ein rotes Tuch. Wer Opfer eines toxischen Menschen geworden ist, sieht sich deshalb oft nicht als Opfer und/oder möchte auch nicht so genannt werden. Doch von vorne.

Was bedeutet das Wort „Opfer“ überhaupt?

Der Duden sagt, ein Opfer sei ein Mensch, „der durch jemanden, etwas umkommt, Schaden erleidet“. Aus juristischer Sicht ist ein Opfer ein Mensch, der durch jemanden in seinen Rechten verletzt wird.

Ein Opfer ist also ein Mensch, dem etwas zugestoßen ist, das ihm Schaden zugefügt und seine Rechte verletzt hat.

Das heißt, in seiner grundlegenden Bedeutung hat das Wort keinerlei negativen Bezug, bis auf das, was diesem Menschen geschehen ist. Die Gründe, warum viele dennoch kein Opfer sein und nicht „Opfer“ genannt werden wollen, obwohl sie den Definitionen nach eins sind, variieren. Und sie haben viel mit Framing zu tun.

Was hat die Ablehnung des Wortes „Opfer“ mit Framing zu tun?

„Framing“ (englisch: darstellen, in einen Rahmen einfügen) bedient „die Tendenz von Menschen, sich in ihren Entscheidungen von der Darstellung der Situation leiten zu lassen“ (Beyer und Gerlach/Springer). Durch das Framing, also eine bestimmte Darstellung einer Sache, entstehen in unserem Kopf entsprechende Bilder. Je nachdem, wie etwas dargestellt wird, entsteht ein anderes Bild. Das bekannteste Beispiel ist das Glas in der Kneipe: Ist es halbvoll oder halbleer? Wir bewerten „halbvoll“ anders als „halbleer“ – bei „halbvoll“ würden wir wahrscheinlich noch nicht so schnell nachbestellen oder nach Hause gehen, bei „halbleer“ schon viel eher. Unser Verhalten passt sich also der jeweiligen Aussage an.

Dies wiederum ist der sogenannte „Framing-Bias“, also das Beeinflussen-Lassen durch die Darstellung einer Sache oder Situation. Das Glas zeigt: „Dieselben Fakten, die auf zwei verschiedene Arten präsentiert werden, können dazu führen, dass Menschen unterschiedliche Urteile oder Entscheidungen treffen“ (Stangl). Genauso verhält es sich mit dem Wort „Opfer“.

Wie weiter oben gezeigt, ist der Begriff „Opfer“ zunächst einmal wertneutral. Wird jemand niedergeschlagen und ausgeraubt, würde niemand ernsthaft daran denken, diesen Menschen nicht als Opfer einzustufen. Dasselbe gilt für den Fall, dass jemand absichtlich ohne Schwimmweste von einem Boot geschubst wird oder durch die Rücksichtslosigkeit eines Rasers auf der Autobahn einen schweren Autounfall hat. Sie sind ganz selbstverständlich Opfer. Doch sowie es um Opfer toxischer Gewalt geht, möchten sehr viele lieber kein Opfer sein.

Warum wollen Opfer toxischer Gewalt nicht Opfer genannt werden?

Die Gründe hierfür sind oft sehr vielfältig. Zu ihnen gehören u. a.:

1. Durch Verharmlosung toxischer Gewalt entstehende Scham

Toxische Gewalt wird in unserer Gesellschaft bis heute verharmlost. „Sie sind halt so, nimm’s nicht so ernst“ oder „nimm’s einfach hin“, hören Opfer da häufig. Oder „Meine Güte, du bist doch erwachsen, dann wehr dich halt oder geh!“

Dies birgt häufig den unterschwelligen oder sogar offen geäußerten Vorwurf in sich, „selbst schuld“ zu sein, wenn man Gewalt erfährt. Opfer einer also angeblich eher harmlosen Sache zu werden, an der man angeblich selbst schuld sei, weckt bei vielen Opfern nicht nur Hilflosigkeit angesichts der kognitiven Dissonanz Fragezeichen © Toxiversum, sondern auch enorme Schamgefühle.

Scham ist aber eine der wichtigsten Waffen toxischer Menschen. Sie können häufig darauf vertrauen, dass ihre Opfer sich schon vorauseilend so sehr schämen für das, was ihnen gerade passiert, dass sie sich anderen gegenüber niemals als Opfer bezeichnen werden.

2. Die Gesellschaft, die keine Schwächen zulässt

In unserer Gesellschaft ist eins von vielen Überbleibseln der Nazizeit noch immer sehr lebendig: das vermeintliche Ideal taff und hart sein und eine Menge aushalten können zu müssen. Wir lassen bis heute Schwäche kaum oder gar nicht zu. Opfer werden auch deshalb nach wie vor als passiv, schwach, abhängig, hilflos, unmündig und niederrangig dargestellt. Sie werden für diese angeblichen Schwächen oft verhöhnt und verunglimpft. Der Begriff „Opfer“ negiert deshalb scheinbar die Tatsache, dass Opfer in der Regel sehr stark sind. Und dass sie schon viel früher gegen die toxische Gewalt angekämpft hätten, wenn sie nur gewusst hätten, wie das geht.

3. Das Wort „Opfer“ als Schimpfwort

Befeuert wird der Wunsch, kein Opfer zu sein und auch nicht so genannt zu werden, seit einigen Jahren sicher auch durch den diskriminierenden Gebrauch dieses Wortes als Schimpfwort. Es beginnt schon auf den Schulhöfen, wo ein Kind ein anderes mit „du Opfer“ herabwürdigt und damit ebenfalls auf negative Weise als „Schwächling“ darstellt und als einen Menschen, der deshalb angeblich weniger wert sei.

4. Das Wort „Opfer“ als verlängerter Arm des toxischen Menschen

Manche Opfer toxischer Gewalt möchten sich auch nicht als Opfer bezeichnen (lassen), weil das aus ihrer Sicht bedeuten würde, dass der toxische Mensch noch immer Macht über sie habe. Dass er sie dadurch auch nach dem Ende der toxischen Beziehung weiter herabwürdigen könne. Sie werten den Begriff „Opfer“ wie einen verlängerten Arm des toxischen Menschen, der sie noch immer davon zurückhalten könne, sich ihr Leben endlich wieder zurückzuholen. Doch sie wollen nie wieder fremdbestimmt sein und lehnen diesen Begriff daher ab.

5. Die Täter-Opfer-Umkehr in toxischen Beziehungen

Nicht zuletzt sind toxische Menschen sehr geübt darin, sich in bewusster Täter-Opfer-Umkehr selbst als „das eigentliche Opfer“ darzustellen. Meistens leider auch ziemlich glaubwürdig für viele Menschen. Mit dieser höhnisch kalkulierten Verdrehung der Wahrheit wollen viele tatsächliche Opfer nicht verwechselt oder gemein gemacht werden. Während manche sich ganz bewusst dafür entscheiden, sich nicht Opfer nennen zu lassen, betreiben andere Selbst-Gaslighting Fragezeichen © Toxiversum, indem sie sich einreden, kein Opfer zu sein, obwohl sie damit unbewusst die Manipulationen des toxischen Menschen weiterführen. Hinzu kommt, dass sie sich über diesen Begriff definitiv nicht gemein machen wollen mit toxischen Menschen, die sich selbst als die eigentlichen „Opfer“ stilisieren.

Darum sollten sich Opfer dennoch als Opfer bezeichnen

So nachvollziehbar die Gründe gegen den Begriff „Opfer“ sind, sprechen aber auch wichtige Gründe dafür, dich als solches zu bezeichnen, wenn du Opfer eines toxischen Menschen geworden bist. Dies sind einige dieser Gründe:

1. Anerkennung als Teil des Heilungsprozesses

Dich selbst als Opfer anzuerkennen, kann sehr hilfreich für den Heilungsprozess sein. Denn gerade Opfern toxischer Menschen fällt es sehr schwer, dies zu akzeptieren. Sie sind meist starke Menschen, die sich für ihre vermeintlichen Schwächen schämen, darunter die Tatsache, überhaupt auf einen toxischen Menschen hereingefallen zu sein. Erkennen sie jedoch, dass dies nichts mit Schwäche zu tun hat, dass auch das Opfer-Sein nichts mit vermeintlich verachtenswerter Schwäche zu tun hat, und akzeptieren sie das Opfer-Sein, ohne es (negativ) zu bewerten, kann das ihren Heilungsprozess positiv beeinflussen.

2. Ohne Opfer keine Täter:innen

Es ist tatsächlich so simpel: Gibt es keine Opfer, kann es auch keine Täter:innen geben. Doch genau das sind toxische Menschen: Täter:innen. Denn sie verüben Gewalttaten, von denen sich manche Opfer lebenslang nicht erholen, insbesondere von den seelischen Taten. Der Autor und Aktivist Mike Rinder sagte in einem Podcast: „Psychischer Missbrauch ist in vielerlei Hinsicht weitaus schädlicher und hat weitaus langfristigere Auswirkungen als körperlicher Missbrauch.“ (A Little Bit Culty) Das sollten wir anerkennen und dafür sorgen, dass auch Täter:innen, die emotionale und seelische Gewalt ausüben, als solche benannt werden.

3. Ohne Opfer keine Ahndung … und keine Ächtung

Bist du nur „Betroffene“ oder „Überlebende“, wird es durch diese Verwässerung der Tatsachen schwieriger, eine gesellschaftliche Anerkennung dessen durchzusetzen, dass toxischer Missbrauch nicht einfach nur ein „Kavaliersdelikt“ ist. Dass es nicht irgendetwas ist, das man in der Umkleidekabine dahersagt. Oder dass hierbei nicht beide an den Problemen schuld seien, weil schließlich alle Menschen irgendeine Beziehung hätten, die schwierig sei. Sondern dass es sich hierbei ganz klar um Gewalt handelt.

Je weniger Anerkennung die Grundlage – dass toxisches Handeln i. d. R. Gewalt ist – erhält, desto geringer sind die Chancen, dass diese Form der Gewalt stärker geahndet wird. Und die Chancen, dass toxische Gewalt nicht mehr verharmlost, sondern auch endlich geächtet wird, bleiben weiterhin äußerst gering.

4. Ohne Opfer keine Sichtbarkeit und keine Diskussion

Die viel kritisierte und verhöhnte „Opferhaltung“ wird erstaunlicherweise häufig nur jenen vorgehalten, die tatsächlich Opfer geworden sind. Toxische Menschen, die von sich immerzu beklagen, Opfer zu sein, obwohl das in der Regel gelogen ist, werden meist weder verhöhnt noch kritisiert. Wahrscheinlich, weil sie die besseren Schauspieler:innen sind – diese Rolle haben sie ja schon ihr Leben lang eingeübt.

Verharmlosen wir das Opfer-Sein durch toxische Gewalt nun durch verwässernde Begriffe, wird es schwieriger, eine öffentliche Diskussion über diese Art der Gewalt zu starten. Denn dann sind die einzigen „Opfer“, die die Diskussionen anführen können und werden, ausgerechnet diejenigen, die definitiv keine Opfer sind.

Die Sichtbarkeit des Themas verringert sich auch, weil viele Medien heute mehr denn je auf Klickbait und billige Schlagzeilen setzen. Und weil das Verständnis in unserer Gesellschaft für einen Menschen, der Opfer geworden ist, mutmaßlich größer ist als das Verständnis bspw. für lediglich „Betroffene“ oder „Überlebende“ (was in vielen Ohren übertrieben klingt, weil toxische Gewalt so verharmlost wird). Je mehr Verständnis Menschen aber für etwas haben, desto stärker ist ihr Interesse an einer Debatte darüber.

Opfer (geworden) zu sein heißt nicht, Opfer zu bleiben!

Wenn wir benennen, was ist, heißt das nicht automatisch, dass wir denen, die Opfer wurden, ein Etikett aufkleben, das nie mehr abgeht. Denn Opfer (geworden) zu sein heißt nicht, für immer und ewig Opfer zu bleiben.

Opfer toxischer Gewalt sind ohne ihre Zustimmung und ohne ihr wissentliches Zutun Opfer geworden. Das ist ein Fakt, und dafür muss sich kein einziges Opfer jemals schämen. Bleibt es jedoch in dieser Rolle stecken, wird es seines Lebens ziemlich sicher nicht mehr froh, da der toxische Mensch noch immer Macht über es hat.

Bloß weil wir also über Opfer sprechen und du dich Opfer nennst, heißt das nicht, dass du für alle Ewigkeit in der Rolle des Opfers bleiben musst. Du kannst dich im Heilungsprozess daraus befreien, um dir dein Leben zurückholen und endlich (wieder) ein gutes Leben führen zu können.

Musst du dich dafür „Opfer“ nennen? Nein, das steht dir selbstverständlich frei. Aber du hilfst damit vielleicht dir selbst, ganz sicher aber der Debatte sowie der Anerkennung toxischer Gewalt als das, was sie ist: Gewalt, eine Straftat gegen die Würde und Selbstbestimmung des Opfers und eine Straftat gegen das Menschenrecht auf Gesundheit und Wohlergehen. Lasst uns deshalb über Opfer reden, über Menschen, die Opfer wurden … aber nicht Opfer bleiben.

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