Aber er braucht mich doch! – Das ist einer der häufigsten Sätze, die Leute sagen, wenn es darum geht, ob und wie sie aus der toxischen Nummer wieder herauskommen, in der sie feststecken. Dass dieser Satz fällt, ist absolut verständlich. Doch braucht dich der toxische Mensch wirklich?
Eins vorab: Es geht hier nicht um kleine Kinder und um tatsächlich Pflegebedürftige. Es geht um erwachsene Menschen, die eine Person einerseits mit ihrem toxischen Verhalten malträtieren, und andererseits behaupten, sie bräuchten diese Person und könnten ohne sie nicht weiter leben/arbeiten/wohnen/existieren usw.
Der toxische Mensch sagt: Ich brauche dich wirklich!
Toxische Menschen sind wählerisch: Brauchen sie jemanden nicht, rangieren sie diese Person einfach aus. Manchmal aufs Abstellgleis, weil man ja nie weiß, ob man jemanden doch nochmal brauchen könnte. Manchmal schicken sie sie aber auch gleich über die sprichwörtliche Klippe, weil diese Person in jeder Hinsicht völlig uninteressant für sie (geworden) ist. Oder zu unbequem. Beim Ausrangieren ist es ihnen ganz egal, wie viel Vergangenheit sie teilen, wie viel sie der anderen Person zu verdanken haben, wie viel (Geld) sie ihr schulden oder was sie ansonsten theoretisch verbindet.
Brauchen sie dich jedoch tatsächlich, dann kann der ansonsten grundfaule toxische Mensch plötzlich in die Gänge kommen. Spätestens in dem Moment, in dem du dich zum Absprung entschlossen hast, packen sie entweder die Hoovering-Tour aus oder spielen „verletzlich“.
Hoovern sie dich wieder ran, dann hast du das Gefühl, jetzt ist ja doch wieder alles so wie früher. Wie in der Zeit, in der es für dich wie ein wahrgewordenes Märchen erschien, auf einen (vermeintlich) so tollen Menschen getroffen zu sein. Außerdem verspricht dir dieser Mensch, sich zu ändern, sich zu bessern, eine Therapie oder Mediation mitzumachen, dich zu entlasten usw., wenn du nur bei ihnen bleibst. Diese Versprechen haben einen Namen: Future-Faking . Toxische Menschen versprechen etwas, das in der Zukunft stattfinden soll, um jetzt ihren Willen zu bekommen. Dass sie ihre Versprechen mehrheitlich nicht einhalten werden, ahnst du da noch nicht.
Ist toxischen Menschen das Hoovering zu anstrengend (denn sie müssten diese Rolle über einen längeren Zeitraum noch einmal sehr überzeugend spielen), gehen sie gleich zur Nummer „Aber ich brauche dich doch!“ über. Sie tun so, als seien sie verletzlich, als wärst du das einzige Puzzlestück, das sie vollkommen macht, als würde in ihrem Leben/Haus/Unternehmen/ihrer Organisation nichts mehr funktionieren, würdest du sie verlassen.
Du glaubst: Er braucht mich wirklich!
Wer es mit einem anderen Menschen zu tun hat, verspürt normalerweise keinen Argwohn. Denn wir gehen davon aus, dass unser Gegenüber genauso fair ist wie wir, dass es uns nicht schaden will und keine niederen Beweggründe hat, sondern erst einmal nur an uns als Mensch interessiert ist. Als Mensch, der sich für eine positive Bekanntschaft, Freundschaft, Partnerschaft, Zusammenarbeit usw. eignen könnte.
Haben wir es mit einem toxischen Menschen zu tun, erkennen wir allerdings nach der wunderbaren Phase des Love-Bombings , dass hier doch nicht alles so wunderbar ist, wie es zu Beginn den Anschein hatte. Dennoch neigen die meisten dazu, es den toxischen Menschen abzunehmen, dass sie sie brauchen. Wir möchten glauben, dass unser Gegenüber es ernst meint. Dass ihm jetzt doch wieder aufgegangen ist, dass wir ziemlich nett/gut im Job/wichtig fürs Unternehmen usw. sind.
Je (scheinbar) verzweifelter der toxische Mensch darum bittet, dass du bleibst, weil er „dich wirklich braucht“, desto eher wirst du dazu neigen, ihm noch einmal eine Chance zu geben. Denn du glaubst an das Gute im Menschen, daran, dass er sich bessern kann, dass er willens ist, sein Teil zu einer gut funktionierenden Beziehung beizutragen. Denn du bist das ja auch.
Aber wofür braucht der toxische Mensch dich tatsächlich?
Toxische Menschen brauchen andere Menschen aus verschiedenen Gründen. Zum einen brauchen sie Leute, die sie aus ihrer unendlichen inneren Leere und daraus resultierenden grenzenlosen Langeweile herausreißen können. Sie brauchen also ein paar Pausenclowns, die ganz amüsant sind, mit denen sich die Zeit gut vertreiben lässt und die ihnen im besten Fall noch jede Menge Anerkennung schenken. Diese Leute kommen und gehen aber in ihrem Leben – sie sind weitgehend austauschbar für sie.
Zum anderen brauchen sie aber auch Leute, die ihnen dabei helfen, ihre Ziele zu erreichen. Sie brauchen Menschen, die beständig ihr Ego pinseln, die ihnen die Drecksarbeit abnehmen, die ihnen im Bett jederzeit zur Verfügung stehen, die die Show nach außen hin aufrechterhalten, die ihren Einfluss vergrößern und sie an die Macht bringen können usw. Das sind die wichtigeren Leute für sie.
Und sie brauchen Menschen, die sie herabwürdigen, demütigen, herumscheuchen und quälen können. Zum Spaß oder weil sie sich dann mächtig und gut fühlen.
Drohen diese Leute damit, sie zu verlassen, versuchen sie natürlich, diese Leute zu halten. Doch sie tun das nicht, weil sie diese Leute lieben oder mögen. Sie tun es, weil sie sie noch in ihrer Funktion (s. o.) benötigen und keine Lust haben, erneut auf die Suche zu gehen.
Haderst du also mit der Entscheidung, ob du bleiben oder gehen solltest, frag dich, wofür dein Gegenüber dich wirklich braucht. Und was er dir dafür bietet (und das auch tatsächlich einhält). Miss ihn dabei aber nicht an seinen Worten – derer hat er viele, und sie sind meist Schall und Rauch bei toxischen Menschen. Miss ihn ausschließlich an seinen Taten und seiner Verlässlichkeit.