„Es hätte schlimmer sein können“, sagt der Bürgermeister von Mazan (Frankreich), wo ein Mann seine bewusstlose Ehefrau jahrelang unzählige Male von Fremden vergewaltigen ließ und die Taten filmte. Es hätte schlimmer sein können. Ernsthaft? Warum sagen Menschen so etwas? Hätte es wirklich schlimmer sein können? Wer bestimmt das überhaupt?
Diesen Satz, dass es doch schlimmer hätte sein können oder dass es doch wohl Schlimmeres gäbe, müssen sich viele Opfer toxischer Gewalt wieder und wieder anhören. Manchmal von Nahestehenden, häufig von Außenstehenden. Und für viele Opfer ist es jedesmal wieder unwahrscheinlich beschämend, kleinmachend und verharmlosend. Denn es besagt ja: Hör auf zu jammern, anderen geht es viel schlechter oder Hab dich nicht so. Du hättest es auch viel schlimmer treffen können.
Warum sagen Menschen so etwas?
Viele Menschen sagen so etwas tatsächlich unbedacht. Denn in unserer Gesellschaft wird es so häufig gesagt, dass sie sich oft wenig bis gar nichts dabei denken. Genauso wie viele jemanden mit „Na, wie geht’s?“ begrüßen, ohne wirklich wissen zu wollen, wie es dieser Person tatsächlich geht. Dass die Gesellschaft im Umkehrschluss mit ihnen aber genauso beschämend, kleinmachend und verharmlosend umgehen wird, sollte ihnen einmal etwas Schlimmes zustoßen, das bedenken sie nicht.
Manche hören sich auch einfach nur gerne reden und sagen dann Dinge, die sie eigentlich gar nicht so meinen würden, hätten sie mal eine Sekunde vorher nachgedacht. Sie labern einfach drauflos, um auch was zum Thema gesagt zu haben, um sich wichtig zu machen oder um der Mehrheit zuzustimmen. Aber sie überlegen nicht, welche Wirkung ihre Worte auf andere haben kann.
Einige wenige Menschen meinen es eigentlich gut mit solchen Bemerkungen. Sie glauben, sie würden dem Opfer mit dieser Perspektive helfen, dem Erlebten weniger Wert (also Auswirkung) beizumessen. Sie glauben, sie würden es ihm damit leichter machen, das Erlebte wegzustecken und wieder in ein normales Leben und zu alter Kraft zurückzufinden. Und sie halten hartnäckig an diesem Glauben fest, auch dann, wenn das Opfer sich gegen diese Perspektive wehrt.
Doch in den meisten Fällen steckt hinter solchen Bemerkungen eine enorme Empathie- und Respektlosigkeit. Leider stehen die synonym für die wachsende Anzahl toxischer Menschen in unserer immer kälter werdenden Gesellschaft. Menschen, die die Gesellschaft sehr bewusst spalten, indem sie versuchen, möglichst viele gegeneinander und besonders gegen ihre Opfer aufzuhetzen und diese dadurch zum Schweigen zu bringen.
Hätte es schlimmer sein können?
Jede Gewalttat ist schrecklich. In sehr vielen Fällen beeinträchtigt sie das Leben des Opfers auf vielfache Weise und auf lange Zeit. Oft auch noch lange, nachdem das Opfer eigentlich glaubt, das Erlebte hinter sich gelassen zu haben. Und meistens sind die Folgen für das Opfer nicht erkennbar, weil es fälschlich glaubt, seine psychische Verfassung und bestimmte Handlungsweisen lägen alleine an ihm. Es merkt zwar, dass da etwas ist, kann dies mangels Aufklärung aber nicht anders zuordnen als sich selbst die Schuld dafür zu geben.
Gewalttaten und ihre Folgen miteinander zu vergleichen, sollten alle, die nicht selbst betroffen oder Expert:innen für genau diese Taten sind, tunlichst sein lassen. Denn woher wollen wir wissen, ob es leichter zu ertragen ist, zigfach vergewaltigt zu werden, während wir bewusstlos sind, als dies im hellwachen Zustand zu erleben? Woher wollen wir wissen, für wen welche Tat wie schwer wiegt? Woher wollen wir auch nur erahnen, was ein Mensch wirklich durchmacht, der eine Gewalttat erlebt hat? Wie wollen wir das vergleichen?
Ist z. B. die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld 1968 dem damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger verabreichte, schwerwiegender als die Ohrfeige, die eine toxische Mutter ihrem kleinen Kind gibt, das ihr zu widersprechen wagt? Klarsfeld wurde für ihre Ohrfeige zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Unzählige Eltern und andere Erwachsene ohrfeigen bis heute unbescholten weiter. Anders als Klarsfeld allerdings meist hinter verschlossenen Türen. Sind diese Ohrfeigen dann weniger schlimm, weil sie nicht den Bundeskanzler treffen oder weil wir sie nicht mitbekommen? Oder sind sie gar nicht erwähnenswert, weil es schließlich Schlimmeres gibt?
Wer entscheidet also, ob es etwas Schlimmeres gibt? Wer hat die Deutungshoheit über eine Gewalttat und ihre Folgen?
Wie schlimm es war, sollte ausschließlich jedes Opfer selbst bestimmen
Wie stark eine Gewalttat – egal, welche Form der Gewalt es war, – dem Opfer wirklich geschadet hat und wie lange es darunter gelitten hat oder leidet, das kann einzig und allein das individuelle Opfer selbst feststellen. Die meisten Menschen würden staunen, wenn sie wüssten, wie extrem sehr viele Opfer unter Gewalt leiden, die Außenstehende als „nicht so schlimm“ einstufen würden. Während manche Opfer, die eine vermeintlich erheblich „schlimmere“ Gewalttat erlebt haben, sehr schnell darüber hinwegkommen.
Aber sie allein bestimmen, wie schlimm das Erlebte für sie war und ob es wirklich „hätte schlimmer sein können“. Und wenn sie kurz nach der Tat oder den Taten sagen, es sei nicht so schlimm gewesen, später (mit mehr Aufklärung über die Gewaltformen) aber sagen, die Gewalttat habe ihnen extremen Schaden zugefügt, dann ist das völlig in Ordnung. Und es steht alleine ihnen zu, das Erlebte für sich und andere so einzuordnen. Niemandem sonst.
Damit die Scham die Seite wechselt!
Gisèle Pelicot, die Frau, die ich eingangs erwähnte, hat sich nicht nur von dem Täter scheiden lassen. Sie hat sich auch entschlossen, den Gerichtsprozess gegen ihre Vergewaltiger vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu führen. „Damit die Scham die Seite wechselt“, wie sie sagte. Denn Scham sollen ja immer nur die Opfer empfinden – aus Sicht der Täter:innen zumindest und häufig auch aus Sicht der Gesellschaft. Nicht umsonst wird Scham als eine der perfidesten und erfolgreichsten Waffen toxischer Menschen eingestuft. Denn Scham hält die Opfer meist davon ab, offen über die Gewalttaten zu sprechen. Und die Täter:innen wissen, dass sie damit auch eins der besten Mittel in der Hand haben, mit dessen Hilfe sie einfach weitermachen und immer mehr Gewalt ausüben können.
Es ist höchste Zeit, dass das aufhört. Denn nicht die Opfer sollten sich schämen, dafür gibt es absolut keinen Grund. Einzig und allein die Täter:innen und diejenigen, die sie durch ihr Wegsehen oder tatkräftige Unterstützung überhaupt erst zu toxischer Gewalt befähigen – einzig und alleine die sollten sich schämen. Doch das tun sie nicht. Wir lassen sie ja damit durchkommen und befördern sie in den meisten Fällen sogar noch.
Frauenfeinde werden Kanzler- oder Präsidentschaftskandidaten, Mobber werden CEOs, extremistische Gruppierungen breiten sich durch massenhaften Landkauf aus, Vergewaltiger werden als Stars angebetet und hofiert. Ihre Opfer dagegen werden öffentlich beschämt, gedemütigt und abgewertet, damit sie schweigen. Und Sprüche wie „es hätte schlimmer sein können“ bestärken das nur noch. Denn sie verbieten den Opfern den Mund, weil es ja so schlimm angeblich gar nicht war. Nur, dass sich andere das Recht herausnehmen, darüber zu befinden, obwohl ihnen dieses Recht nicht zusteht. Das haben, s. o., ausschließlich die Opfer selbst.
Die Einmischungen und Verharmlosungen müssen endlich aufhören. Und Sprüche wie „es hätte schlimmer sein können“ müssen endlich aufhören. Wir müssen über das reden, was uns angetan wurde. Und zwar laut und deutlich. Auch und gerade, wenn es anderen unangenehm ist. Damit die Scham endlich, endlich die Seite wechselt.
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