Viele Menschen fragen sich: Wer ist eigentlich schlimmer – narzisstische oder psychopathische Menschen? Häufig heißt es, Psychopathen seien das ultimative Böse. Sie seien das Schlimmste, was dir jemals passieren könnte. Narzisst:innen erscheinen uns dagegen vergleichsweise harmlos. Aber ist das wirklich so?
Das ultimative Böse kennen wir zur Genüge aus den Medien (Serienmörder), der Kultur (Hannibal Lecter), der Politik (Nazis), Religionen (Satan) … und dann kommt scheinbar lange nichts. Glauben wir. Denn wir können doch nicht ernsthaft unseren narzisstischen Vater mit Hitler vergleichen. Oder unsere narzisstische Nachbarin mit Aileen Wuornos. Oder?
Warum die Frage, ob narzisstische oder psychopathische Menschen schlimmer sind, die falsche Frage ist
Es gibt zwei Probleme mit dieser Frage:
- Es gibt keine Antwort darauf.
- Sie lenkt von den viel wichtigeren Fragen ab, die dich schützen und sogar dein Leben retten könnten.
Warum gibt es keine Antwort auf diese Frage?
Auf die Frage, ob narzisstische oder psychopathische Menschen schlimmer sind, gibt es tatsächlich keine pauschale Antwort. Man könnte vielleicht glauben, dass Psychopath:innen schlimmer sind. Denn ihnen fehlt jegliche emotionale Empathiefähigkeit und sie gehen entsprechend skrupellos vor, was sie theoretisch zu „idealen“ Mörder:innen machen würde. Doch sind längst nicht alle Mörder:innen auch Psychopath:innen. Es gibt sehr viele Psychopath:innen unter uns, die nicht weiter auffällig werden, weil ihre Gewalt sich vor allem auf die unsichtbaren Gewaltformen beschränkt, die psychische Gewalt z. B. oder die soziale oder finanzielle. Genauso können aber auch Narzisst:innen extreme körperliche Gewalt ausüben. Denk nur einmal an all die Morde an Frauen aufgrund angeblich gekränkter Mannes-„Ehre“. Die haben genau null mit Ehre zu tun, aber alles mit Besitzanspruch und dem unbedingten Willen zu Macht, Kontrolle und Dominanz. Und die wiederum sind etwas, das Narzisst:innen, Soziopath:innen und Psychopath:innen gemeinsam haben. Die Unterschiede zwischen ihnen sind sehr viel geringer als wir meist glauben.
Darüber hinaus frage ich mich, woran wir messen sollen, welche Taten schlimmer sind und welche weniger schlimm. Ist z. B. die jahrzehntelange psychische Quälerei eines Kindes durch ein narzisstisches Elternteil, die das Kind jeder Lebensfreude beraubt und es in lebenslange tiefe Depressionen stürzt, schlimmer oder weniger schlimm als eine Vergewaltigung durch einen Psychopathen? Unsere Rechtsprechung wertet letztere, also körperliche, Gewalt als deutlich schlimmer und bestraft sie manchmal. Psychische Gewalt aber ist bis heute immer noch nicht eindeutig als strafbar festgelegt. Sie kommt überhaupt meist erst dann zur Sprache, wenn sie mit körperlicher Gewalt einhergeht, wenn also jemand nicht „nur“ manipuliert, gehirngewaschen und permanent gedemütigt wurde, sondern auch z. B. wiederholt krankenhausreif geprügelt wurde. Viele Opfer berichten, dass sie körperliche Gewalt viel leichter wegstecken konnten als psychische Gewalt. Andererseits gibt es Opfer, die die psychische Gewalt oder andere Gewaltformen als nicht sehr beeinträchtigend empfunden und sich schnell davon erholt haben. Aber es gibt auch Opfer, die ihr Leben lang extrem unter den Folgen der Gewalt leiden.
Kurz gesagt: Es ist immer eine sehr individuelle Einschätzung, welche Form der Gewalt und welche Folgen von dem jeweiligen Opfer als schwerwiegend und stark beeinträchtigend für sein Leben empfunden werden. Es kommt außerdem auch auf das Ausmaß der jeweiligen Gewalt an. Wir können und sollten die Taten und ihr Ausmaß nie alleine berücksichtigen, sondern immer auch die Folgen für das jeweilige Opfer. Was das Ganze wieder kompliziert macht, da viele Opfer sich über Jahre und Jahrzehnte gar nicht dessen bewusst sind, dass die Einschränkungen in ihrer Fähigkeit, ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten und zu genießen auf diese Gewalt zurückzuführen ist. Und genau darüber sollten wir dringend sprechen – aber ganz sicher nicht darüber, ob diese Gewalt nun durch narzisstische oder psychopathische Menschen ausgeübt wurde und ob sie deshalb weniger schlimm oder schlimmer sein könnte.
Der Fokus alleine auf die Täter:innen vereinfacht eine in Wirklichkeit weit komplexere Debatte und verharmlost die Gewalt. Erst recht, wenn die Täter:innen mal wieder weitgehend ungeschoren davonkommen, weil sie eine angeblich „schlimme Kindheit“ hatten. Doch das trifft auf sehr viele toxische Menschen gar nicht zu. Dennoch hält sich dieser Mythos sehr, sehr hartnäckig, nicht zuletzt, weil sie ihn selbst füttern. Er zementiert außerdem den Fokus auf die vermeintlich „armen“ Täter:innen, deren Namen wir sogar meist kennen und über die zahllose Filme und Podcasts gemacht und Bücher geschrieben werden. Während die Opfer in Vergessenheit geraten und ihre Namen so gut wie niemand kennt.
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Wovon lenkt die Frage nach der „schlimmeren“ Gewalt (narzisstisch oder psychopathisch) sonst noch ab?
Wie ich oben schon schrieb: Die Überlegung, welche Gewalt schlimmer sein könnte, lenkt auch von sehr viel wichtigeren Fragen ab. Nämlich von denen, die dich schützen können und sogar dein Leben retten könnten. Was für Fragen sind das? Z. B. diese:
- Welche Gewaltformen gibt es und woran erkennst du sie?
- Wie erkennst du, ob du es mit einem toxischen Menschen zu tun hast?
- Anhand welcher Warnsignale kannst du einordnen, ob du Gewalt erlebst?
- Woran erkennst du, ob sich diese Gewalt steigert oder steigern wird?
- Wie kannst du feststellen, ob diese Gewalt jetzt schon (schwerwiegende) Auswirkungen auf dich hat?
- Welche Auswirkungen hat die Gewalt auf dich, dein Leben, dein Umfeld, deine Arbeit, und welche könnte sie noch haben?
- Und wie kannst du dich bestmöglich vor toxischer Gewalt schützen?
Diese Fragen mögen unsere scheinbar unbändige Neugier auf das ultimative Böse nicht befriedigen. Doch da uns das ultimative Böse eher selten begegnen wird, stellt es auch eher selten eine direkte Gefahr für uns dar. Wesentlich gefährlicher für uns individuell, gesellschaftlich, medizinisch, wirtschaftlich und politisch sind jene Menschen, die sich superfreundlich geben und uns mit dem Märchen „Ich meine es doch nur gut mit dir“ Gewalt antun, die wir mangels Wissen als solche gar nicht erkennen. Diese Menschen sind Narzisst:innen und Psychopath:innen – und sie nutzen alle mehr oder weniger dieselben Gewaltmethoden. Weißt du nur, ob sie narzisstisch oder psychopathisch sind, weißt du immer noch nicht, welche Formen der Gewalt sie ausüben und wie groß das Ausmaß ihrer Gewalt ist. Kennst du aber ihre Methoden, hast du gute Chancen, dich vor ihrer Gewalt zu schützen. Auch vor der oft tödlichen Gewalt des ultimativ Bösen.