Vertrauen sich Betroffene von toxischer Gewalt anderen Menschen an, weil sie zu Hause, bei der Arbeit, im Verein oder im Freundeskreis toxische Gewalt erleben, müssen sie sich oft Sätze anhören wie: „Aber du hast dir diesen Menschen doch selbst ausgesucht!“ Aber ist das wirklich so?
Es ist für Betroffene von jedweder Form von Gewalt oft sehr, sehr schwer, sich anderen Menschen anzuvertrauen. Zum einen, weil unsere Gesellschaft sie dann fälschlich als „Schwächlinge“ einstuft, als weniger wert als jene Menschen, die entweder keine Gewalt erfahren oder die Gewalt erfahren, aber den Mund halten und weitermachen, als sei nichts passiert. Zum anderen, weil diese Gewalt meist nur hinter geschlossener Tür stattfindet, also für andere kaum sichtbar ist. Reagieren die anderen dann mit Klischees und gefühllosen oder sogar vorwurfsvollen Sätzen wie „Aber du hast dir diesen Menschen doch selbst ausgesucht!“, kann das die Betroffenen noch weiter in die Isolation, Hilflosigkeit und Verzweiflung drängen. Doch was ist an diesem Satz überhaupt dran?
Wen haben wir uns denn da ausgesucht?
Um verstehen zu können, ob wir uns diesen Menschen wirklich selbst ausgesucht haben, müssen wir uns toxische Beziehungen genau anschauen. Denn sie verlaufen in aller Regel nach dem gleichen Muster:
1. Idealisierungsphase
In dieser ersten Phase so gut wie jeder toxischen Beziehung tritt dir dieser Mensch sehr positiv gegenüber. Er hört dir zu, er merkt sich gut, was du sagst, und er geht auf dich ein. Darüber hinaus habt ihr vielleicht einige wichtige Gemeinsamkeiten, ergänzt euch gut oder der Kontakt und das Zusammensein sind sehr easy und problemlos. Dieser Mensch lobt dich in dieser Phase oft oder spricht in höchsten Tönen von dir. Und er lässt sich gerne auf ein gemeinsames Projekt oder eine Beziehung mit dir ein. Er macht dir Komplimente und viele Zusagen, die allesamt ziemlich glaubwürdig klingen. Vielleicht kommt er auch mit einem guten Leumund ausgestattet zu dir – vielleicht haben Freund:innen ihn dir empfohlen oder gesagt, er sei total nett und vertrauenswürdig; vielleicht hat er eine wichtige Position in deinem Ort oder Unternehmen; oder er kommt mit anderen Referenzen, die dich für ihn einnehmen.
Und weil das alles so anständig, glaub- und vertrauenswürdig ist, was du da siehst und erlebst, und weil ihr so gut zusammenpasst und deine Lebenserfahrung dir sagt, dass es mit diesem Menschen ziemlich sicher keine Probleme geben wird, lässt du dich von diesem Menschen und den guten Gefühlen, die er in dir weckt, überwältigen. Also lässt du dich auf ihn oder euer gemeinsames Projekt ein.
2. Abwertungsphase
Was du während der ersten Phase wahrscheinlich nicht oder nicht ansatzweise ahnst, ist, dass so gut wie all das Positive, das du da erlebst, gespielt ist. Dass dieser Mensch dich schon da nach Strich und Faden belogen hat, dass er dich verführt und dir wunder was für eine schöne gemeinsame Zukunft vorgegaukelt hat, damit du die nun folgende Phase erträgst. Denn in dieser Phase und der nächsten zeigt er dir sein wahres Ich, und das sieht so aus:
Er wertet dich ab, demütigt dich, gaslightet dich LATOU“), hält dir Vorträge, die dich verwirren , nötigt dich, Dinge zu tun, die du nicht tun willst (wofür er dich beschimpft oder herabwürdigt) , vergleicht dich mit anderen Menschen (über die er teilweise bislang nur schlecht gesprochen hat), die er nun aber als leuchtendes Vorbild für angeblich besseres Verhalten nennt , und noch einiges mehr.
, weist dich zurecht, projiziert , leugnet eigene Fehler, greift dich stattdessen an und stellt dich als negativ, manipulativ oder verrückt dar, du würdest ihn immerzu ärgern oder ihm schaden wollen (genannt „Du hast zu dieser Zeit aber noch die Idealisierungsphase im Kopf und bist total verwirrt. Denn in dieser Zeit war alles so leicht, so gut, so angenehm, und dieser Mensch hatte so gut wie immer nur positive, unterstützende, aufbauende, zugeneigte Worte für dich. Und jetzt ist alles wie umgekrempelt. Er scheint kaum noch etwas Gutes an dir zu finden, oder wenn er das tut, dann garniert er es gleich wieder mit einer Abwertung, Demütigung, mit Druck oder Nötigung. Du kannst anscheinend gar nichts mehr richtig machen und bist diesem Menschen jetzt plötzlich nicht mehr gut genug, egal, wie sehr du dich anstrengst. Du traust dir selbst, deiner Wahrnehmung, deinen Erfahrungen, deinen Ansichten und deinem Instinkt nicht mehr und bist zutiefst verunsichert.
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3. Entsorgungsphase
Und schon beginnt die Entsorgungsphase – die genau das ist, was das Wort ausdrückt: Du bist diesem Menschen nicht mehr (gut) genug, gibst ihm nicht mehr das, was er will, oder nervst ihn, weshalb er sich nach Ersatz für dich umschaut. Wahrscheinlich hat er sogar bereits eine oder mehrere Personen am Start, die nur zu glücklich wären, deinen Platz einzunehmen, denn sie befinden sich noch in der ersten, der Idealisierungsphase. Er wendet sich von dir ab und verbringt immer mehr oder nur noch Zeit mit dieser neuen Person. Du bleibst zurück und verstehst die Welt nicht mehr. Zu recht, denn dieses Verhalten ist wirklich kaum zu verstehen.
Haben wir uns diesen Menschen also wirklich selbst ausgesucht?
Natürlich gehst du niemals freiwillig und bewusst eine Beziehung welcher Art auch immer mit einem Menschen ein, der in jeder denkbaren Form gewalttätig ist und dich zu seinem eigenen Vorteil aushöhlen und fertigmachen will. Vielmehr gehst du eine Beziehung zu einem Menschen ein, der sich dir als ein wunderbarer, äußerst positiver, glaubwürdiger und vertrauenswürdiger Mensch präsentiert. Der möglichst viel über dich wissen will, weil er dich so interessant und sympathisch findet. Der dir vorschwärmt, wie schön eure Beziehung zukünftig sein wird.
Du weißt aber nicht, dass er dir all das nur vorgaukelt, dass er in Wirklichkeit ganz anders ist. Du ahnst nicht, dass er sich nur so ausgiebig für dich „interessiert“, damit er herausfinden kann, wie er dich ködern und womit er dich bei Gelegenheit demütigen, unter Druck setzen oder erpressen kann
. Du ahnst nicht, dass er dir lediglich vorgaukelt, wie schön eure Beziehung zukünftig sein kann, aber nie vorhat, all das in die Tat umzusetzen .Du kannst diesem Menschen schließlich nur vor den Kopf schauen. Und das, was er dir da zeigt, erscheint dir unwiderstehlich. Genau diesen unwiderstehlichen Menschen hast du dir ausgesucht. Definitiv nicht ausgesucht hast du dir all die ekelhafte Gewalt, die plötzlich hinter der Maske zum Vorschein kommt.
Du bist also auf ein grandioses Schauspiel hereingefallen – und du bist damit nicht alleine. Es fallen unwahrscheinlich viele Menschen auf diese Show herein. Und gerade die, die dir so unverblümt suggerieren, dass du doch (angeblich) selbst schuld an all dem seist, glauben von sich selbst, dass sie nie auf so etwas hereinfallen würden … und ahnen nicht, dass sie jederzeit das nächste Opfer werden können oder es womöglich längst sind, indem der toxische Mensch sie z. B. als Enabler:innen oder sogar als Flying Monkeys benutzt.
Sagt dir also jemand, dass du dir diesen Menschen doch „selbst ausgesucht“ habest, dann weißt du jetzt, dass das absolut nicht stimmt!