Der Begriff häusliche Gewalt klingt viel zu harmlos für das, was da passiert. Er klingt nach „kommt bei anderen Leuten vor“ und „da mische ich mich nicht ein, ist deren Privatsache“. Doch häusliche Gewalt ist nicht harmlos, sondern toxisch. Und sie hat Folgen für uns alle. Aber was genau ist häusliche Gewalt? Und woran erkennst du sie?
Häusliche Gewalt ist körperliche Gewalt zwischen zwei Eheleuten, richtig? Sie ist Gewalt, die „auf ganz bestimmte soziale Schichten begrenzt“ ist. Oder? Nein, häusliche Gewalt ist sehr, sehr viel mehr als das. Es gibt sie in allen sozialen Schichten. Und sie ist auch keine Privatsache, denn sie wirkt sich immer auch gesellschaftlich, oft auch wirtschaftlich aus. Dennoch hat bislang offenbar einzig Freiburg die häusliche Gewalt zu einem Fall des öffentlichen Interesses gemacht und hierfür schon im Jahr 2000 ein Sonderdezernat der Staatsanwaltschaft eingerichtet. Denn häusliche Gewalt ist kein Bagatelldelikt. Andere Gemeinden sehen das offenbar bis heute nicht so, die Bundesregierung ebenfalls nicht, denn häusliche Gewalt ist bis heute kein eigener Strafbestand – all das zum Schaden der unzähligen Opfer. Und das muss sich dringend ändern.
Was ist häusliche Gewalt?
Im Juni 2023 meldete die Welt am Sonntag, dass häusliche Gewalt im Jahr 2022 enorm zugenommen habe. Die Anzahl der polizeilich registrierten Opfer sei um fast 10 Prozent auf knapp 180.000 gestiegen. Das sind 491 Opfer pro Tag oder 20 Opfer pro Stunde oder anders ausgedrückt:
Alle drei Minuten registriert die Polizei ein Opfer häuslicher Gewalt.
Die Opfer, die sich nicht trauen sich zu melden oder die diese Gewalt nicht als solche einstufen, sind damit noch lange nicht erfasst. Die Dunkelziffer liegt nach Einschätzung von Expert:innen sehr, sehr viel höher. Das heißt, wir müssen dieses Problem dringend sehr, sehr viel ernster nehmen. Denn häusliche Gewalt kann enorme Schäden bei den Opfern anrichten. Und diese wirken sich wiederum wirtschaftlich und gesellschaftlich aus, wenn z. B. ein Opfer aufgrund der Gewalt nicht mehr oder nur eingeschränkt arbeitsfähig ist, fortwährend medizinische und psychische Behandlung benötigt und seine soziale Teilhabe stark einschränken muss.
Doch zunächst einmal müssen wir alle, aber in erster Linie die Opfer, überhaupt erst einmal wissen, was häusliche Gewalt genau ist, um sie auch als solche erkennen zu können, wenn wir sie vor unserer Nase haben. Wie normalisiert sie nämlich bereits ist (und deshalb von vielen gar nicht als solche wahrgenommen wird), zeigt eine aktuelle Umfrage von Plan International, laut derer unfassbare 33 Prozent der befragten Männer zwischen 18 und 35 Jahren es akzeptabel finden, eine Frau zu schlagen. 33 Prozent!
Häusliche Gewalt definiert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) so:
„Häusliche Gewalt bezeichnet Gewalttaten zwischen Menschen, die in einer häuslichen Gemeinschaft leben oder lebten, beispielsweise in einer Ehe, Lebenspartnerschaft oder intimen Beziehung.“
Diese Gewalt muss dabei nicht zwingend in dem eigenen Haushalt stattfinden. Auch Gewalttaten zwischen diesen Personen außerhalb der eigenen vier Wände fallen unter diesen Begriff. Und es müssen auch nicht alle Formen und Beispiele dieser Gewalt vorkommen, um dennoch häusliche Gewalt zu sein. Doch welche Arten von Gewalt tatsächlich unter den so harmlos klingenden Begriff häusliche Gewalt fallen, wissen die Wenigsten.
Die Formen der häuslichen Gewalt
Häusliche Gewalt ist längst nicht nur das geschwollene Auge vom Faustschlag des Partners oder die rot-blauen Würgemale am Hals. Sie sind nur die sichtbarsten Anzeichen. Häusliche Gewalt aber zeigt sich in vielen Formen, und die meisten davon sind für Außenstehende nicht zu sehen oder zu erkennen. Zumindest dann, wenn sie nicht genau hinsehen und hinhören.
1. Körperliche Gewalt
Körperliche Gewalt ist die bekannteste Form der häuslichen Gewalt. Diese kann aus folgenden Handlungen bestehen:
- schlagen,
- stoßen,
- treten,
- würgen,
- mit Gegenständen werfen und/oder verletzen,
- mit Waffen verletzen,
- mit kochenden Flüssigkeiten verbrühen,
- mit ätzenden Chemikalien verletzen,
- verbrennen,
- eine ärztliche Behandlung von Verletzungen verhindern,
- eine Person ohne deren Wissen und Zustimmung Alkohol oder Drogen einflößen,
- sie zwingen Erbrochenes oder Fäkalien zu essen,
- ihre Ernährung zu kontrollieren (z. B. durch das Vorenthalten notwendiger Lebensmittel oder das erzwungene Einschränken der Nahrungsaufnahme) u. Ä.
2. Tödliche Gewalt/Femizide
Tödliche Gewalt, darunter die Femizide , sind auch Teil der häuslichen Gewalt. Hier eskalieren die Täter:innen die Gewalt so sehr, dass die Opfer ihr erliegen.
3. Psychische (emotionale und seelische) Gewalt
Die psychische Gewalt kann sich auf sehr vielfältige Weise zeigen, z. B.:
- Verbale Gewalt: anschuldigen, beleidigen, demütigen, erniedrigen, bloßstellen, anbrüllen, verängstigen, drohen (Konsequenzen, Verletzungen oder Tod androhen) u. Ä.
- Zermürbende Gewalt: Schlafentzug, Gefährdung der Gesundheit durch Vorenthaltung von Medikamenten oder Lebensmitteln.
- Gaslighting : Verunsicherung durch Anzweifeln der Korrektheit und gezielte Unterwanderung und Manipulation der Wahrnehmungen und Erlebnisse des Opfers.
- Zwang: ein bestimmtes Verhalten oder Handeln erzwingen oder verbieten, Kinder als Druckmittel benutzen, Haustiere quälen oder töten.
Psychische Gewalt muss nicht automatisch mit körperlicher Gewalt einhergehen. Doch ist es häufiger, dass diese beiden Formen der Gewalt zusammen auftreten.
4. Sexuelle (oder sexualisierte) Gewalt
Zu dieser Form der häuslichen Gewalt gehören:
- sexuelle Belästigung,
- sexuelle Beleidigungen und
- unerwünschte sexuelle Gewalthandlungen inkl. Vergewaltigung.
5. Soziale Gewalt
Soziale Gewalt heißt, dass Täter:innen ihre Opfer kontrollieren, überwachen und in ihrer Freiheit einschränken oder sie ihrer Freiheit gleich ganz berauben. Dies tun sie auf verschiedene Weisen, z. B.:
- Überwachung des Opfers, seines Verhaltens und Handelns, z. B. durch
- beständiges Befragen des Opfers und Aushorchen seines Umfelds (inkl. der Kinder und Arbeitsstelle),
- unerlaubten Zugriff auf Postfächer und Korrespondenzen u. Ä. ,
- Verbot des Kontakts zu einigen oder allen Familienmitgliedern, Freund:innen, Kolleg:innen und Nachbar:innen,
- bewusstes Schaffen von Gräben zwischen dem Opfer und seinem Umfeld, sodass die Kontakte (teilweise für immer) zerstört sind,
- Verbot von Fortbildungen und/oder Arbeit,
- Bevormundung und Kontrolle von Kleidung, Aussehen, Aufgaben (Hausarbeit, Kindererziehung) u. a.
6. Ökonomische (also finanzielle) Gewalt
Ökonomische Gewalt bedeutet, die Opfer durch gewalttätige Handlungen rund um die Finanzen abhängig und kontrollierbar zu machen, mit dem Ziel, dass die Opfer die Beziehung nicht verlassen und tun, was die Täter:innen wollen. Einige Beispiele:
- Zwang, eine Erwerbstätigkeit auszuüben oder sie zu beenden,
- Abnehmen (Diebstahl) des Gehalts/der Honorare,
- Überwachen der Ausgaben,
- Erzwingen und/oder Verbot des Kaufs bestimmter Dinge (z. B. Kleidung),
- Zuteilung von Geld (auch des eigenen Geldes des Opfers, selbst dann, wenn es Alleinverdiener:in ist),
- Verbot eines eigenen Kontos, Verweigerung eines Zugangs zum eigenen oder gemeinsamen Konto,
- Erzwingung der Unterschrift unter Kredit-, Kauf- und anderen Verträgen zum Nachteil des Opfers,
- Schuldenmachen im Namen des Opfers (teilweise ohne dessen Wissen) u. a.
7. Reproduktive Gewalt
Diese Form der Gewalt dreht sich rund um die Reproduktion, z. B.:
- Zwang zur oder Verbot der Empfängnisverhütung,
- Zwang zu einer Schwangerschaft,
- Zwang zu oder Verbot von Abtreibungen,
- Verbot ärztlicher Versorgung vor, während und nach der Schwangerschaft.
8. Digitale Gewalt
Digitale Gewalt ist jede Form der Gewalt, die mit Hilfe digitaler Geräte ausgübt wird, z. B.
- Überwachung und Kontrolle von Kontakten und Nachrichten durch Spionage-Apps auf Handys und Rechnern,
- Kontrolle von Aktivitäten und Nachrichten auf Handys/Smartphones, Tablets und Rechnern durch unerlaubte Sichtung,
- versteckte Kameras und/oder Mikrofone in der Wohnung,
- Kontrollanrufe und -nachrichten, die ggf. zu jeder Tages- und Nachtzeit beantwortet werden müssen,
- Kontrolle und Einschränkung der Nutzung von Smart-Home-Geräten wie Rolläden, Heizung, Lüftung, Beleuchtung, Waschmaschine, Herd, Kühlschrank, Fernseher u. a.
9. Stalking/Nachstellung
Täter:innen üben diese Form der häuslichen Gewalt nach dem Ende einer Beziehung aus. Sie beinhaltet einige Bestandteile der anderen Gewaltformen, aber auch ganz eigene, z. B. diese:
- Nachstellen/Verfolgen des Opfers ohne dessen Wissen oder Einverständnis,
- Auflauern,
- Überwachen,
- Cyberstalking über Social Media,
- Cyberstalking durch Drohungen per SMS/Messages und E-Mails,
- Telefonterror,
- wiederholtes Schicken von (ungewollten) Geschenken,
- Online-Bestellungen für das Opfer und sich selbst (auf Rechnung des Opfers),
- fortwährende Kontaktaufnahme, Liebeserklärungen und Bitten um Rückkehr in die Beziehung, auch gegen den erklärten Willen des Opfers,
- bei Ablehnung durch das Opfer Drohungen und verstärkter, aggressiverer Terror.
Hättest du gedacht, dass all das zu häuslicher Gewalt gehört? Auf jeden Fall kannst du häusliche Gewalt jetzt besser einordnen. Denn zu ihr gehören tatsächlich nicht nur blaue Augen, Würgemale und tödliche Gewalt, sondern sehr, sehr, sehr viel mehr. Auch vieles, das wir gar nicht als Gewalt, sondern als „Einzelfall“ oder „Ausnahme“ oder „bisschen aus dem Ruder geraten“ einstufen würden.
Umso mehr sollten wir alle darauf achten und sehr genau hinhören, wenn uns jemand davon erzählt, was bei ihr oder ihm zu Hause alles los ist. Denn eins ist klar:
Häusliche Gewalt ist niemals akzeptabel.
Solltest du deine eigenen Erlebnisse mit einem toxischen Menschen in dieser Auflistung wiedererkennen, dann solltest du wissen, dass nichts davon deine Schuld war oder ist. Geht es dir nach dem Lesen nicht gut, kommen schlimme Erinnerungen wieder hoch, sprich bitte mit einer vertrauten Person oder suche dir Hilfe. Und gönne dir etwas Wohltuendes, um das Gift wieder ein bisschen auszugleichen.