Typische Rollenverteilung in einer toxischen Familie.

Hast du den ersten Teil über toxische Eltern bereits gelesen? Falls nicht, kannst du das hier tun: „Woran erkennst du, ob deine Eltern toxisch sind?“ Hier geht es jetzt weiter mit der Rollenverteilung in toxischen Familien.

In toxischen Familien gibt es fünf sehr typische Rollen:

  • ein toxisches Elternteil (s. Link oben),
  • ein befähigendes Elternteil (Enabler:in),
  • das goldene Kind,
  • das Sündenbock-Kind,
  • „unter ferner liefen“: die anderen Kinder.

Die Rollen der Kinder können manchmal überlappen und sich im Lauf der Jahre verschieben. Und manchmal gibt es mehr als nur ein goldenes oder ein Sündenbock-Kind. Im Falle einer Familie mit nur einem Kind wird das Einzelkind immer etwas von allen Rollen abbekommen, doch es wird meistens klar in eine der drei Rollen gedrängt.

Das befähigende Elternteil (Enabler:in)

Hattest du neben dem toxischen Elternteil auch ein liebevolles und fürsorgliches, anwesendes Elternteil, hattest du vergleichsweise großes Glück (wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von Glück sprechen kann). Vielen Kindern toxischer Eltern aber fehlt das andere Elternteil, das als Korrektiv wirken und dem Kind eine stabile, verlässliche und absolut sichere Anlaufstelle sein könnte.

Vielleicht hätte das andere Elternteil das Potenzial dazu und theoretisch auch den Willen. Doch es leidet oft selbst unter dem toxischen Verhalten des anderen Elternteils und vergräbt sich z. B. in Arbeit oder verfällt in eine emotionale Starre. In Folge lässt es das Kind mit der Gewalt allein. Vielleicht hat das andere Elternteil auch toxische Verhaltensweisen übernehmen müssen, um in dieser Beziehung überleben zu können. Dann redet es die Gewalt klein und behauptet vielleicht sogar, es gäbe diese Gewalt gar nicht.

Häufig bläst es in das Horn des toxischen Elternteils und sagt dir womöglich, du solltest nicht so viel jammern. Anderen Kindern ginge es viel schlimmer, dagegen hättest du es sogar richtig gut. So lernst du, dass du auch diesem Elternteil nicht anvertrauen kannst, was dir wirklich geschieht und wie viel Gewalt du tagtäglich erlebst. Dank eines solchen Elternteils erfährst du nie, dass ein anderer Mensch deine Ängste auffangen und dir Sicherheit geben kann. Und dass du Wege lernen kannst, wie du deine Gefühle regulieren und ohne Ängste und ohne permanent auf der Hut zu sein mit anderen Menschen umgehen kannst.

Das heißt, ein enabelndes Elternteil befähigt das toxische Elternteil dazu, Gewalt gegen das Kind auszuüben. Viele Expert:innen bezeichnen enabelnde Elternteile deshalb als mindestens genauso schädlich für ein Kind wie toxische Elternteile.

Die Kinder

Kinder sind oft die hauptsächlich Leidtragenden bei toxischen Eltern. Denn sie haben von Geburt an keine Chance. Sie wachsen in einer Familie auf, in der es systematische Gewalt so gut wie jeder Art gibt. Psychische wie körperliche und sogar sexuelle Gewalt, finanzielle, soziale und digitale Gewalt sind bei ihnen alltäglich. Und keins der Kinder darf eine eigenständige Persönlichkeit entwickeln – fast alles wird ihnen von dem toxischen Elternteil vorgeschrieben.

Die Kinder ein und derselben Familie werden von dem toxischen Elternteil meist unterschiedlich behandelt. Dies hat den Zweck, die Kinder gegeneinander aufzuwiegeln und Rivalitäten zwischen ihnen zu entfachen. Das Elternteil kann dann entweder als ehrfurchtgebietende, allmächtige Person den Rivalitäten scheinbar ein Ende setzen (um sie dann separat wieder zu entfachen). Oder es kann mit einer gütigen, schlichtenden Maske plädieren: „Vertragt euch bitte! Wir sind doch besser als andere. Und ihr habt nur euch, wenn ich mal nicht mehr bin.“ Nur um diese Maske anschließend fallenzulassen und die Kinder wieder gegeneinander aufzuhetzen. Viele dieser künstlich geschaffenen Gräben des Misstrauens, der Unzuverlässigkeit und Abneigung zwischen den Kindern lassen sich bis an deren Lebensende nicht überwinden.

Kinder haben unterschiedliche Rollen im toxischen Familiengefüge

Ein toxisches Elternteil weist jedem Kind eine andere Rolle im Familiengefüge zu. Es gibt meist ein goldenes Kind, ein Sündenbock-Kind und weitere Geschwister „unter ferner liefen“. Die Kinder werden dementsprechend sehr unterschiedlich behandelt. So kann es dazu kommen, dass ein Kind eine kollossal andere Kindheit erlebt als die anderen Geschwister derselben Familie. Erzählt ein Kind später, es habe sehr viel Gewalt erlebt, und das andere Kind erinnert sich an überhaupt keine Gewalt, heißt das nicht automatisch, dass das eine Kind sich das eingebildet oder das andere Kind alles vergessen hat. Sie haben lediglich im selben Haushalt zwei grundverschiedene Kindheiten erlebt.

Die Rollenverteilung durch das toxische Elternteil ist nicht immer ganz eindeutig. Jedes Kind kann auch Anteile der anderen erleben. So kann sich ein Sündenbock-Kind z. B. bis zum Umfallen erschöpfen, um Anerkennung zu erlangen. Oder das goldene Kind wird bspw. bezichtigt, an der Krankheit des toxischen Elternteils schuld zu sein. Und manchmal tauscht das toxische Elternteil die Rollen der Kinder auch aus, wenn es ihm irgendwie nützt.

Das goldene Kind

Das goldene Kind ist das Lieblingskind des toxischen Elternteils. Häufig ist es diesem Elternteil äußerlich und charakterlich sehr ähnlich. Dieses Kind wird den anderen Kindern vorgezogen, und es erhält immer etwas mehr als die anderen: mehr Aufmerksamkeit, mehr Zuwendung, mehr gemeinsame Zeit, mehr Lieblingsessen, schönere/passendere Kleidung, mehr Freiheiten, und am Ende erbt es häufig auch mehr. Es wird anderen Leuten bevorzugt vorgezeigt, es wird gelobt, bestärkt und angefeuert.

Seine Bedürfnisse, Wünsche und Träume will das toxische Elternteil ihm erfüllen, denn es sieht seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Träume in ihm (oder interpretiert sie in das Kind hinein). Also unterstützt es das Kind darin, diese zu verfolgen, und macht teils alles für dieses Kind möglich. Es gibt sich wohlwollend und großzügig dem Kind gegenüber und hegt ein scheinbar enges, vertrautes Verhältnis mit ihm (was das Kind spätestens im Erwachsenenalter auch schier erdrücken kann).

Auch das goldene Kind erlebt Gewalt

Dennoch erlebt dieses Kind jede Menge Gewalt, denn das toxische Elternteil will dieses Kind um jeden Preis nach seinem Ebenbild prägen und manipuliert es entsprechend ohne Rücksicht auf die Persönlichkeit des Kindes. Nur darf es auf keinen Fall zur vermeintlichen „Konkurrenz“ werden – dann hat es den Status des goldenen Kindes schnell und womöglich für immer verloren. Wendet sich das goldene Kind sogar von dem toxischen Elternteil ab, verliert es sofort und vielleicht unwiderruflich sämtliche Privilegien.

Dieses Kind muss perfekter sein als die anderen Kinder der Familie und des gesamten Umfelds. Das Elternteil pusht es erbarmungslos mit wachsenden Ansprüchen immer weiter, sowohl seelisch als auch körperlich. Dieses Kind soll es einmal besser haben (aber auf keinen Fall zu gut!). Selbst seine geringsten Leistungen werden hervorgehoben und vor den anderen Kindern glorifiziert. Und seine Fehler werden minimiert oder gleich ganz unter den Teppich gekehrt.

Das goldene Kind kann manipulieren, aber auch vermitteln

Ein goldenes Kind lernt, dass das Leben sehr leicht ist, wenn es die Anerkennung des Elternteils hat. Es lernt sehr früh allerhand Methoden, sich dieser Anerkennung zu versichern und sie beizubehalten (später auch die anderer Menschen). Es lernt auch, dafür nicht nur redliche Wege zu beschreiten, sondern genauso zu lügen und zu manipulieren wie das Elternteil.

Manche goldenen Kinder haben auch gelernt, zwischen allen Parteien zu vermitteln. Denn sie haben am besten gelernt, wie das toxische Elternteil zu besänftigen ist. Das, was ein goldenes Kind nicht durch Leistung oder Intellekt vollbringen kann, versucht es durch vorauseilende Unterwürfigkeit, Zugewandtheit oder Humor wettzumachen, je nachdem, mit was es am besten bei diesem Elternteil oder bei anderen Menschen landen kann. Wird es erwachsen, kommt es oft vor, dass das goldene Kind selbst toxisches Verhalten an den Tag legt, um auch außerhalb der Familie seinen gehobenen Status beizubehalten.

Das Sündenbock-Kind

Meist ist das Sündenbock-Kind dasjenige in der Familie, das die ganze manipulative und gewalttätige Show des toxischen Elternteils durchschaut und die Zustände anprangert. Doch auch ohne das wird dem Sündenbock-Kind immer alle Schuld in die Schuhe geschoben: die Schuld an der schlechten Laune des Elternteils, an dessen (angeblich) marodem Finanzstatus, an dessen Versagen z. B. bei Job-Bewerbungen oder Prüfungen, an der Unordnung in der Wohnung, am verkochten Essen, am Aussehen/der Figur, an den schlechten Noten der anderen Kinder, an Streitigkeiten, aber auch an der Krankheit dieses Elternteils oder eines anderen Familienmitglieds.

Dieses Kind wird selbst aus nichtigem Anlass über die Maßen kritisiert, gehänselt, herabgewürdigt und geschlagen. Es kann sich noch so sehr anstrengen: So gut wie nichts, was es tut, wird je den Ansprüchen des toxischen Elternteils gerecht. Es lernt, dass es (angeblich) nichts könne, zu nichts tauge, der „letzte Dreck“ sei und manchmal sogar, dass es nicht wert sei, überhaupt zu leben. Es erlebt genau das Gegenteil des goldenen Kinds: Selbst herausragende Leistungen werden minimiert, kritisiert oder ignoriert, und selbst geringste Fehler aufgeblasen.

Das Sündenbock-Kind muss sich in allem unterordnen

Das Sündenbock-Kind steht permanent unter Druck und weiß doch: Nichts wird je genügen. Es geht immer auf Zehenspitzen, um das toxische Elternteil auch ja nicht zu verärgern. Möchte es eigenständig Aktivitäten wie Hobbys oder Schulfächer wählen, lässt das Elternteil dies nicht zu. Stattdessen muss das Kind das tun, was das Elternteil will. Scheitert es dann in diesen Dingen, liegt das immer an der vermeintlichen „Schuld“ und angeblichen „Unfähigkeit“ des Kindes, nicht an der überheblich aufgezwungenen, falschen Wahl durch das Elternteil.

Das Kind hat auch ansonsten keine eigenen, individuellen Bedürfnisse zu haben – diese muss es immer denen des toxischen Elternteils oder der Familie unterordnen. Weiß dieses Elternteil um die Wünsche und Träume des Kindes, richtet es sie nach Lust und Laune gegen das Kind. Es gaukelt ihm bspw. die anstehende Erfüllung vor, um dann deren Scheitern zu provozieren und das Kind umso niederträchtiger und niederschmetternder in die vom Elternteil gewünschte Realität zurückzuholen. Oder es erpresst das Kind damit (ein toxisches Elternteil ist sich tatsächlich für Erpressungen nie zu schade). Und manchmal verbietet das Elternteil dem Kind etwas, um genau das dann selbst zu tun, oder weil es nicht ertragen kann, dass das Kind etwas besser kann als das Elternteil.

Das Sündenbock-Kind wird abgelehnt

Wut und Hass des toxischen Elternteils richten sich in der Familie größtenteils gegen dieses Kind. Auch das goldene Kind lehnt das Sündenbock-Kind ab, denn durch dieses Geschwisterteil erkennt es die Realität und die Wahrheit hinter der goldenen Maske des toxischen Elternteils. Das Sündenbock-Kind hingegen lernt, auf das goldene Kind neidisch zu sein, da das Geschwister so deutlich sichtbar und ungerechterweise mehr von allem erhält. Dieser Neid wird dann befeuert, wenn das Sündenbock-Kind sich über alle Maßen anstrengt, alles genauso oder besser zu machen als das goldene Kind, nur um trotzdem von dem toxischen Elternteil abgelehnt und herabgewürdigt zu werden.

Selbst wenn das Sündenbock-Kind alles richtig macht, wird es kritisiert und bestraft. Allerdings erfolgt dies häufig so, dass Kritik und Strafe zeitlich versetzt und aus heiterem Himmel kommen und das Kind sie oft gar nicht zuordnen kann. Insbesondere, wenn das Kind versucht, es dem Elternteil nachzumachen, wird ihm das aus erlogenen Gründen verboten, angeblich, weil es das sowieso nicht könne, weil seine Schulnoten nicht gut genug seien oder weil das Geld dafür nicht vorhanden sei. Dies sogar dann, wenn das goldene Kind in den gleichen Aktivitäten ganz selbstverständlich und großzügig unterstützt wird.

Als Erwachsene:r bleibt das Sündenbock-Kind aufgrund all dessen oft weit unter seinen Möglichkeiten. Sein Selbstwert ist so gering, dass es sich vieles nicht (mehr) zutraut. So scheint sich die Wertung durch das toxische Elternteil, dieses Kind würde versagen und sei zu nichts nutze, zu bewahrheiten, was dem Kind noch mehr Boden unter den Füßen wegzieht.

Unter ferner liefen … die anderen Kinder

In Familien mit mehr als zwei Kindern können die anderen Geschwister vergleichsweise glimpflich davonkommen. Sie werden zwar je nach Bedarf von dem toxischen Elternteil instrumentalisiert und ebenfalls manipuliert. Auch sie erfahren jede Form der Gewalt. Doch sie stehen insgesamt weniger im Fokus und bekommen weniger von der Gewalt ab als das Sündenbock-Kind, da das Elternteil auch an ihnen wenig bis gar kein Interesse hat.

Sie werden allerdings weder so stark hofiert noch so sehr unterstützt wie das goldene Kind. Viele haben auch noch als Erwachsene oft das Gefühl, vernachlässigt zu werden und immer zu kurz zu kommen. Zwar sehen sie, dass sie besser dastehen, als das Sündenbock-Kind, doch ihr Maßstab ist das goldene Kind. Sie lernen entweder, sich ganz unauffällig zu verhalten, oder sich dem goldenen Kind anzudienen, um auch ein wenig von der Bevorzugung profitieren zu können. Das Sündenbock-Kind hingegen muss manchmal auch bei ihnen als Blitzableiter herhalten. In einigen Familien kommt es allerdings auch vor, dass eins dieser Kinder versucht, dem Sündenbock-Kind das Leben zu erleichtern und ihm den Rücken zu stützen – allerdings zum eigenen Schaden. Denn kein toxisches Elternteil lässt sich ein Sündenbock-Kind so einfach wegnehmen. Sein innerfamiliäres Machtkonstrukt verteidigt es meist ohne Skrupel.

Die anderen Kinder haben vergleichsweise größere Freiheiten, müssen aber auch mit allem alleine klarkommen. Sie können sich später am leichtesten von der Familie abnabeln. Doch auch zwischen ihnen können Rivalitäten entstehen, die von dem toxischen Elternteil künstlich gefördert werden. Fällt das goldene Kind in Ungnade, stilisiert das toxische Elternteil am ehesten eins dieser Kinder zum Ersatz empor.

Auch diese Kinder leiden sehr unter einem toxischen Elternteil. Doch sie haben oft erheblich bessere Chancen auf ein normales, erfülltes und gesundes Leben als das Sündenbock-Kind.

>> weiter zu: Die Folgen toxischer Eltern für die Kinder

Mehr über die Red Flags und Methoden toxischer Menschen findest du hier.

Und mehr dazu, wie du dich vor diesen Methoden schützen kannst, findest du hier.